Elf Monate nach dem Tod meines Freundes sitze ich auf einem Spielplatz am Rande der Alpen und beobachte meine Kinder, die einen kleinen Hügel rauf und runter rennen.
Am Rande des Sandkastens sitzen ein Mann, ich schätze ihn auf Anfang 30, und seine kleine Tochter. Er ist groß, 1,90 vielleicht, gut gebaut, mit vollen dunklen Haaren und einem markant-hübschen Gesicht, wie ein Male Model aus einer Jean-Paul-Gaultier-Werbung. Ich finde ihn attraktiv.
Im vergangenen Frühling ist der Mann gestorben, mit dem ich 14 Jahre meines Lebens verbracht habe. Er war mein erster Sex, meine erste Liebe, mein bester Freund, der Vater meiner Tochter und meines Sohnes.
Er wurde krank und ab einem gewissen Punkt wussten wir, dass unsere Zeit zusammen zu Ende geht. Der Sex war zu diesem Zeitpunkt schon lange eingefahren, zwar vertraut, aber stellenweise unmotiviert und mit fortschreitender Erkrankung selten geworden.
Anfangs hatte mich das gestört.
Wir führten Gespräche über unser Sexualleben, über unsere Wünsche und Sehnsüchte. Aber mit zunehmender Angst vor dem Ende und in dem dichten Nebel der Trauer danach war jedes in diese Richtung gehende Bedürfnis verschwunden.
Nun sitze ich an dem kleinen Hügel neben einer Kurklinik und merke, dass sich was tut. Ich beobachte den Jean-Paul-Gaultier-Vater und denke darüber nach, wie es wäre, wenn er auf mir läge. Oder für den Anfang, wie ein Kuss sich anfühlen würde. Oder nur ein Gespräch.
In den vergangenen Wochen habe ich andere Frauen kennengelernt, die ihren Partner verloren haben, manche vor Jahren. Niemand außer mir scheint sich mit dem Thema Sex auseinanderzusetzen.
Und überhaupt, wie soll das funktionieren?
In Gedanken gehe ich den Ablauf eines Kusses durch – sich ansehen, annähern, berühren, die Augen schließen, die Lippen finden…
In diesem Moment nähert sich der Schöne und fragt mit starkem sächsischen Akzent nach einem Pflaster für seine Tochter, die eine mikroskopisch-kleine Schramme an ihrem Knie entdeckt hat.
Wir kommen ins Gespräch und er beklagt sich über seine Ex-Frau und erzählt mir, dass die Arbeit im elterlichen Fleischereibetrieb ihn an den Rande eines Burnouts gebracht hat, weshalb er nun diese Vater-Kind-Kur macht.
Das Gespräch ist so anregend wie ein Tatort mit Simone Thomalla, nebendran schreit die komplett in Frozen-Merchandise-gekleidete Tochter ebenfalls sächselnd nach weiteren Pflastern.
Zu Hause angekommen versinke ich schnell im Alltag. Die Kinder, die Arbeit, der Haushalt, das Alleinsein, langsam spielt es sich ein. Der erste Todestag kommt und geht, das Trauerjahr ist vorbei.
Seltsam, es ist so, wie die Leute gesagt haben.
Wenn man erstmal alle Jahrestage, alle Feste und Jahreszeiten ohne einen geliebten Menschen verbracht hat, wird es ein wenig besser. Oder zumindest anders.
Irgendwann kommen die Gedanken wieder. Wie könnte es sein, mit einem anderen?
Was ich weiß – ich suche eine Beziehung, etwas Festes. Ich kenne nichts anderes als das "Konzept" Beziehung, ich war, seit ich denken kann, in einer.
Einen Monat nachdem ich mit meinem Freund zusammen kam, schickte er mir aus dem Jugendgruppen-Urlaub eine Karte, auf der vorne "I love Rimini" stand. Rimini hatte er durchgestrichen und "you" darunter gekritzelt.
Während der Studienzeit erzählten mir Freundinnen von ihren Party-Exzessen, One-Night-Stands, ihren kurzfristigen Beziehungen, skurrilen Begebenheiten, schrägen und tollen Typen, seltsamem und phantastischem Sex.
Ich hörte zu, fasziniert und ein wenig neidisch. Gleichzeitig war ich froh, diesen spießigen Hafen der Beziehung zu haben.
Wenn ich abends neben meinem Freund im Bett lag, hatte ich das Gefühl, ein bisschen weiter zu sein. Ich brauchte das nicht. Ich hatte schon was Solides. Jetzt fange ich von vorne an. Aber wie? Ich bin seit Jahren nicht mehr ausgegangen, wohin überhaupt?
"Online-Dating" sagen die Freundinnen, "machen jetzt alle"…