Jeden Tag in Deutschland versucht ein Mann, eine Frau zu töten. Zu diesem Schluss kommt Familienministerin Franziska Giffey, die am Montag aktuelle Zahlen zur häuslichen Gewalt gegen Frauen vorstellte. Anlass ist der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, der jährlich am 25. November abgehalten wird.
Neben der Präsentation aktueller Statistiken zur Gewalt gegen Frauen war der Ausbau von Frauenhäusern Kernthema: In Deutschland gibt es gerade einmal 350 Frauenhäuser mit 6800 Plätzen für Betroffene, die Zuflucht vor gewalttätigen Männern suchen. Viele Frauen müssen hunderte Kilometer fahren, um Zuflucht zu finden, oder stehen eine lange Zeit auf Wartelisten. Auch Familienministerin Giffey spricht in Hinblick auf die niedrige Anzahl von Schutzräumen in Frauenhäusern von "weißen Flecken auf der Landkarte".
Deswegen sollen in den kommenden vier Jahren 120 Millionen Euro in den Ausbau von Frauenhäusern investiert und perspektivisch ein Rechtsanspruch auf einen Platz an einem Zufluchtsort geschaffen werden.
Wie sinnvoll die geplanten Maßnahmen sind, welche Herausforderungen Frauen in Not bewältigen müssen und was sich ändern muss, um Frauen mehr Sicherheit zu bieten – darüber hat watson mit Heike Herold von Frauenhauskoordinierung und Ev von Schönhueb von Frauenraum gesprochen.
Bereits im Jahr 2010 ist die Istanbul-Konvention beschlossen worden, wie das "Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt" auch genannt wird. Im Februar 2018 wurde sie auch in Deutschland eingeführt. Die Istanbul-Konvention besagt, dass pro 10.000 Einwohner in Deutschland ein sogenannter Family Place bestehen muss, also Familienzimmer als Zufluchtsorte. Meist benötigen Frauen in Notsituationen diese Art von Unterkunft. Würde man die Istanbul-Konvention befolgen, müsste es 21.400 Betten in Frauenhäusern in Deutschland geben.
Aktuell gibt es allerdings nur 6800.
Schönhueb bemängelt, dass es selbst in Berlin gerade einmal ein Drittel der laut Istanbul-Konvention geforderten Plätze gibt: "Das ist eindeutig zu wenig", sagt sie gegenüber watson.
Auch Herold steht der Einführung der Istanbul-Konvention vor fast zwei Jahren tendenziell positiv gegenüber: "Durch das Übereinkommen wird das Problembewusstsein geschärft. Wir hoffen, dass uns die Istanbul Konvention den entsprechenden Aufschwung bietet."
"Es gibt zirka 120 Kommunen, die kein eigenes Frauenhaus haben", sagt Herold gegenüber watson. Die Geschäftsführerin des Dachverbands betont allerdings, das einzige Problem sei nicht, dass es zu wenige Plätze für Frauen in Not gebe. Ein weiteres sei, dass die Häuser nicht entsprechend ausgestattet seien und es zu wenig Personal gäbe, um Frauen aufzunehmen und zu betreuen.
Es geht laut Herold also um mehr als um "weiße Flecken auf der Landkarte", wie Familienministerin Giffey sie benannt hat. Deutschland hat es in Hinblick auf die Frauenhäuser mit erheblichen Strukturschwächen zu tun.
"Es fehlt schlicht und ergreifend eine gesetzliche Finanzierungsgrundlage", sagt Herold. "Frauenhäuser werden von der Kommune oder den Ländern getragen, jedoch sind sowohl Personal- als auch Betriebskosten nirgends gesetzlich verankert. Wenn die Gelder knapp werden, ist auch die Finanzierung der Frauenhäuser in Frage gestellt."
Hinzu kommt: Es ist aktuell nicht bekannt, wie hoch der Bedarf an Kapazitäten in Frauenhäusern und Fachberatungsstellen tatsächlich sei, gibt Herold zu bedenken. Dazu liefen derzeit fünf Modellprojekte in verschiedenen Bundesländern.
Auch hier bewertet Herold es positiv, dass die Problematik zumindest verstärkt Aufmerksamkeit gewinnt:
Bereits im März 2019 hat Giffey einen Rechtsanspruch für einen Platz im Frauenhaus gefordert. Ihre Forderung hat sie am Montag im ARD-"Morgenmagazin" erneut aufgegriffen: "Da müssen alle ran, damit wir einen Rechtsanspruch tatsächlich auch perspektivisch schaffen können."
Gerade in Großstädten wie Berlin oder Hamburg oder Ballungszentren wie dem Ruhrpott – also überall dort, wo eine hohe Bevölkerungsdichte herrscht – warten Frauen teilweise viel zu lange auf einen freien Platz in einem Frauenhaus. Herold findet:
Sie plädiert für ein in allen Ländern einheitliches Bundesgesetz. Das hätte außerdem den Vorteil, dass Frauen unkompliziert in einem anderen Bundesland unterkommen könnten, wenn nötig.
Schönhueb ist gespannt, wie der Rechtsanspruch in der Praxis aussehen wird: "Ich glaube, die wenigsten Frauen werden auf einen Platz im Frauenhaus klagen."
Dennoch könnte der Rechtsanspruch zumindest ein Zeichen gegen die Gewalt setzen – und so zu einem Mentalitätswandel beitragen.
In ihrer Berufspraxis hat Schönhueb beobachtet, dass viele Frauen sozial isoliert sind und in Notsituationen häufig nicht wissen, was sie tun sollen. Eine noch größere Herausforderung ist es, wenn die Frau nicht aus Deutschland stammt und nicht genügend Sprachkenntnisse aufweist.
Auch Herold weiß: "Gerade Frauen mit Migrationshintergrund fehlt oft ein gutes soziales Netzwerk, über das sie Unterstützung bekommen können. Oder sie kennen sich mit dem deutschen Rechtssystem nicht aus."
Auch finanzielle Abhängigkeit, in der viele Frauen nach wie vor stehen, stellt in Notsituationen eine zusätzliche Hürde dar. Schönhueb erzählt:
Das Problem solcher Frauen ist nicht nur, dass sie aufgrund mangelnder Finanzen nicht mal eben ins Hotel können. Selbst eine Unterbringung im Frauenhaus kann zu teuer werden – denn nicht überall werden die Kosten für den Aufenthalt pauschal übernommen. "Da ist es natürlich auch eine finanzielle Frage, wo wir solche Frauen unterbringen", sagt Schönhueb. "In Berlin zum Beispiel werden die Plätze in Frauenhäusern pauschal finanziert, in anderen Gebieten wie Brandenburg zum Beispiel nicht." In der Regel können die Kosten dann allerdings von anderen Trägern, wie dem Jobcenter, übernommen werden.
Auch wenn viele der Frauen, die Zuflucht in Frauenhäusern suchen, einen Migrationshintergrund, keinen Schulabschluss oder eine anerkannte Ausbildung haben: nicht alle Frauen stammen aus prekären Verhältnissen. Wir dürfen nicht vergessen: "Häusliche Gewalt ist ein Problem, das alle gesellschaftlichen Schichten betrifft", sagt Schönhueb.
Wer aus einer gehobenen gesellschaftlichen Schicht stammt, ist vielleicht finanziell besser aufgestellt, meint Schönhueb. Das bedeutet allerdings nicht automatisch, dass diese Frauen sich in Notsituationen besser zurechtfinden. Laut Schönhueb spielt psycho-sozialer Druck eine erhebliche Rolle: "Viele dieser Frauen scheuen davor zurück, in ein Frauenhaus einzuziehen, weil es ihrem üblichen Lebensstandard nicht entsprechen würde."
Oft ist ein Frauenhaus allerdings auch bei Besserverdienern die einzige Möglichkeit, dem gewalttätigen (Ex-) Partner zu entkommen. Denn auch, wer nicht an der Armutsgrenze lebt, hat bei dem angespannten Wohnungsmarkt in Großstädten wie Berlin Schwierigkeiten, eine eigene Wohnung zu finden. "Dann ist ein Frauenhaus oft die naheliegende Option", sagt Schönhueb. "Zumindest übergangsweise."
Es gibt mehrere Wege, um einen Platz im Frauenhaus zu bekommen.
"Jedes Frauenhaus entscheidet selbst, wen es aufnimmt", erklärt Schönhueb, die mit Frauenraum einmal wöchentlich das Big Telefon mit betreibt und aktiv vermittelt. "Dabei gibt es keine Rankings: Wir versuchen jeder Frau zu helfen, die akut von Gewalt bedroht ist."
Im Gespräch mit den Frauenhäusern wird zunächst geklärt, ob und wie viele Kinder die Frau mitbringen möchte. Auch spielen Sicherheitsfragen eine Rolle: Manchmal müssen Frauen abgelehnt werden, wenn deren gewalttätiger Partner zu nah am Frauenhaus lebt, sagt Schönhueb.
Ein weiteres Hindernis, einen Platz finden, ist, wenn die Frau jugendliche Söhne mitbringt – denn Männer haben in der Regel keinen Zutritt zu Frauenhäusern – oder einen behindertengerechten Platz benötigt, meint Herold.
Sollte in der direkten Umgebung kein Platz gefunden werden, wird zu einem weiter entfernten Haus vermittelt, sagt Herold: "Das bringt für die Frauen verschiedene Schwierigkeiten mit sich – aber sie ist zumindest erst einmal sicher."
In Notfällen kann auch in Obdachlosenheime vermittelt werden. Bevor diese Maßnahme ergriffen wird, versuchen Schönhueb und ihre Kolleginnen allerdings andere Lösungen zu finden:
Ansonsten rät Schönhueb in Akutsituationen, zunächst die Polizei zu rufen. Die können den Mann der Wohnung verweisen. Allerdings ist nicht jede Frau damit gleich in Sicherheit: "Schließlich könnte sie zum Beispiel von Freunden oder Familienmitgliedern des Mannes bedroht werden", gibt Schönhueb zu bedenken.
Die von Giffey präsentierten Maßnahmen, um Gewalt gegen Frauen zu vermeiden und Frauen in Notsituationen schnelle Hilfe zu bieten, streifen nur die Spitze des Eisbergs. Aber sie sind ein Anfang, der ein Zeichen gegen die Gewalt setzen kann.
Abgesehen davon, dass es mehr Plätze in Frauenhäusern, eine bessere Ausstattung und mehr Personal braucht, um Frauen zu schützen, ist ein Mentalitätswandel dringend notwendig. Herold meint, es müsse eine Gleichstellung der Geschlechter erreicht werden: "Wenn ein Mann eine Frau schlägt, ist das ein Versuch, ungleiche Verhältnisse wiederherzustellen und die eigene Macht zu sichern." Präventionsarbeit spricht Herold einen wichtigen Stellenwert zu.
Schönhueb fordert mehr Kurse für Männer, die Gewalt ausüben: "In Berlin gibt es bisher nur eine Beratungsstelle, die Anti-Gewalt-Kurse für gewalttätige Männer anbietet." Auch müssten die Frauen von Seiten der Justiz mehr geschützt werden und Gewalt von Männer stärker geahndet.
Der Platzmangel in Frauenhäusern ist lediglich eine Schnittstelle zahlreicher gesellschaftlicher Missstände, unter der letztlich Frauen leiden, die sich bereits in Notsituationen befinden. Die geplanten Maßnahmen sind immerhin ein Schritt in die richtige Richtung, um ihnen zu helfen.