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Würzburg-Attentat: Warum es nicht egal ist, aus welchem Grund Täter töten

Schock und Trauer der Würzburger sitzen tief nach dem Attentat in der Innenstadt.
Schock und Trauer der Würzburger sitzen tief nach dem Attentat in der Innenstadt.Bild: www.imago-images.de / HMB Media/Julien Becker
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Islamismus-Experte Ahmad Mansour zu Würzburg: "Haben es mit einem neuen Phänomen zu tun, dass psychisch Kranke sich selbst radikalisieren"

29.06.2021, 19:0801.07.2021, 11:03
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Nachdem der erste Schock über das Attentat in Würzburg, bei dem ein Mann mit dem Messer scheinbar wahllos auf Passanten losging, verdaut war, stand schnell eine große Frage im Raum: Warum? Aus welchem Motiv tötete und verletzte der 24-jährige Somalier fremde Menschen in der Innenstadt? War er psychisch krank oder doch überzeugter Islamist?

Watson hat mit Kriminalpsychologen und Terrorismusexperten darüber geredet, wie man Attentäter einordnet, warum die Frage nach dem Motiv uns so interessiert und ob sie uns überhaupt weiterhilft.

Stephan G. Humer, Vorsitzender des Netzwerks Terrorismusforschung, sagt dazu gegenüber watson: "Für die Bevölkerung ist die Bewertung einer solchen Tat natürlich immens wichtig, da sie ein berechtigtes Erkenntnisinteresse hat und die Tat für sich, für die eigene Familie, das eigene soziale Umfeld im Allgemeinen einordnen will. Man will verstehen, ob und wie man eventuell betroffen ist."

Aus seiner Sicht ist nicht so sehr die Unterscheidung der Motive – islamistisch oder psychisch krank – wichtig, sondern die Gewichtung. "Ein Täter kann ja auch beide Merkmale in sich vereinen. Viele Terroristen sind psychisch krank", so Humer.

Meist mehrere Auslöser für ein Attentat

Auch Ahmad Mansour, Psychologe und Gründer der Mind Prevention (Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention), bestätigt gegenüber watson, wie wichtig es ist, die Tatmotive von Straftaten zu verstehen:

"Das ist in der Kriminologie das A und O. Psychisch krank sein und eine islamistische Gesinnung schließen sich nicht gegenseitig aus. Wir haben es hier mit einem neuen Phänomen zu tun von Menschen, die psychisch labil sind, eine persönliche Krise durchleben und ideologische Züge haben. Das haben wir in Hanau, in Halle und auch bei islamistischen Anschlägen bereits gesehen, deshalb müssen wir das ansprechen.

Ich lehne es jedoch ab, nur einen der beiden Aspekte zu sehen. Gerade im linken Spektrum wird nur der psychische Hintergrund gesehen, aber der ideologische außer Acht gelassen. Das ist unprofessionell und hilft uns nicht weiter. Wenn der Täter unter anderem aus ideologischen Motiven handelt, dann müssen diese auch erwähnt werden! Wer das nicht mit einbezieht, will nur seine eigene Sicht bestätigen, aber keine echte Aufklärung leisten."

Der Terrorismusexperte Peter Neumann bringt im "Zeit"-Podcast "Was jetzt?" noch ein weiteres Argument an, warum die Erforschung des Tatmotivs so wichtig ist: "Bei einer sehr schweren psychiatrischen Erkrankung ist der Mensch nicht mehr zurechnungsfähig, weil er nicht verstanden hat, was er tat."

Auch im Verfahren gegen den Angreifer von Würzburg wird ein psychiatrisches Gutachten die Frage nach der Schuldfähigkeit klären. Statt ins Gefängnis könnte der Somalier im Falle einer Verurteilung – je nach Bewertung seiner mentalen Gesundheit – dann beispielsweise in ein psychiatrisches Krankenhaus statt in ein Gefängnis gebracht werden.

Auch ohne Bekennerschreiben kann eine Tat islamistisch motiviert sein

Der Terrorismusexperte Rolf Tophoven sagt dazu gegenüber watson: "Wenn wir Würzburg als Modell nehmen für die letzten islamistischen Angriffe, dann entwickelt sich immer ein gleiches Muster: Der Täter ist polizeibekannt, es reicht aber nicht für eine längere Haft, er ist psychisch gestört oder er ist islamistisch motiviert."

Auch für den Täter in Würzburg sieht Tophoven ein Muster: "Man muss differenzieren: In Würzburg liegt möglicherweise eine Kombination einer psychischen Störung mit islamistischer Inspiration vor. Wie es aussieht, hat sich der Täter wohl aufgrund der islamistischen Inspiration so weit motiviert, dass er zum Messer gegriffen hat."

Gerade der Einsatz eines Messers ist laut Terrorismusexperte Tophoven charakteristisch für Täter, die sie sich selbst radikalisieren, wie in Dresden oder Würzburg. "Es ist leicht zu beschaffen. Tatmittel gibt es sicherlich viele, aber Messer sind sehr gefährlich, weil man sie gut verstecken und transportieren kann. Zudem bringt eine Messerattacke hohe mediale Aufmerksamkeit", erklärt Tophoven.

"Wie es aussieht, hat sich der Täter wohl aufgrund der islamistischen Inspiration so weit motiviert, dass er zum Messer gegriffen hat."

Bekannt ist, dass der geflüchtete Somalier bereits vor der tat in psychiatrischer Behandlung war. Da er bei der Tat allerdings "Allahu Akbar" – Gott ist groß – rief, wird nach möglichen Verbindungen zur Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) gesucht. Stand Dienstagnachmittag halten Ermittler es anhand von Zeugenaussagen naheliegend, dass der Mann islamistisch motiviert war.

Unbekannt ist noch, ob der Mann Mitglied einer Terrororganisation ist.

Tophoven erklärt dazu:

"Der IS als Dschihad ist als globale Strategie angelegt: Das heißt konkret, der IS muss sich nicht in jedem Fall zu der Tat bekennen. Direkt mit dem IS hatte der Angreifer aus Würzburg mit Sicherheit nichts zu tun. Es reicht aber, wenn die Ideologie des IS vom Täter adaptiert wird und das ist jetzt das entscheidende Motiv für die Tat. Wir müssen nicht mehr auf ein Bekennerschreiben des IS warten."

Neue Täterprofile stellen Sicherheitsbehörden vor Herausforderungen

Peter Neumann sieht eine bemerkenswerte Entwicklung im Bereich des Terrorismus. Er meint dazu im "Zeit"-Podcast, vor zehn oder fünfzehn Jahren seien die meisten Studien über Attentäter zu dem Schluss gekommen, dass die Attentäter psychisch gesehen normal seien. Nun aber werde eine Vermischung von psychischer Anfälligkeit und extremistischer Gewalt immer häufiger. In Europa sei der dominante Typ der extremistische Gewalttäter – sowohl auf rechtsextremistischer Seite als auch islamistischer Seite.

Darauf müssten sich Sicherheitsbehörden und Präventionsanbieter viel stärker einstellen. Denn psychische Probleme erhöhen das Risiko, ein Attentat zu begehen: "Es gibt (...) eine Reihe von Persönlichkeitsstörungen, die weniger schwer sind. Eine mittelschwere oder leichte Persönlichkeitsstörungen schließt eine terroristische Überzeugung nicht nur nicht aus, sondern verstärkt sie sogar", sagt Neumann.

Im Nachrichtenmagazin "Spiegel" forderte der Bund der deutschen Kriminalbeamten (BDK) aus aktuellem Anlass einen Ausbau der psychiatrischen Behandlungskapazitäten. Laut dem Bundeschef der Polizeigewerkschaft, Sebastian Fiedler, wies rund ein Drittel der Einzeltäter bei Attentaten zwischen 2000 und 2015 eine psychische Erkrankung auf. "Wer an bestimmten Arten von Schizophrenie leidet, trägt ein erhebliches Risiko in sich, zum Gewalttäter zu werden", sagte Fiedler zum "Spiegel". Deshalb müsse der Fachkräftemangel in deutschen Psychiatrien dringend gelöst werden.

Das Tatmotiv ist wichtig für die Gewaltprävention

"Es gibt derzeit neue Forschungen des Bundeskriminalamts und des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen zur Erstellung von Täterprofilen, um vorzeitig zu erkennen und einzustufen, ob ein Täter psychisch gestört ist. Man will herausfinden, ob die gestörte Psyche oder die psychiatrische Behandlung das entscheidende Moment ist, die Tat auszuführen. Das wird derzeit auch im Sinne der Prävention untersucht", erklärt Tophoven gegenüber watson.

"Wir haben es mit einem neuen Phänomen zu tun, dass psychisch Kranke sich selbst radikalisieren. (...) Wir müssen uns dazu bewegen, den Terror vielleicht auch neu zu definieren."

Ahmad Mansour warnt davor, eine mögliche psychische Erkrankung des Täters als vereinfachte Erklärung der Tat hinzunehmen: "Psychische Erkrankungen von Tätern werden weiterhin benutzt, um diese abzustempeln und sich nicht mit den unbequemeren, ideologischen Hintergründen auseinandersetzen zu müssen. Das ist zwar einfacher, entspricht aber nicht der Wahrheit", sagt er zu watson.

Weiter meint er: "Wir haben es mit einem neuen Phänomen zu tun, dass psychisch Kranke sich selbst radikalisieren. Sie brauchen keine Mitgliedschaften oder Kontakte zu Terrororganisationen. Das macht die Sache für die Sicherheitsorgane sehr schwierig, weil die Einzelpersonen nicht in die bisherigen Raster und Vorstellungen fallen und deswegen auch nicht auffallen. Wir müssen uns dazu bewegen, den Terror vielleicht auch neu zu definieren."

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