Ist das ihr Vater oder ihr Freund? Wenn Paare mit gewaltigem Altersunterschied über die Straße flanieren, tuscheln die Menschen links und rechts schon mal ziemlich unverhohlen. Denn: Ein älterer Mann und eine jüngere Frau – das klingt schnell nach Millionären, Hollywood und uralten Stereotypen.
"Die hat bestimmt einen Vaterkomplex", mag es da schnell heißen. Aber sind wir mit solchen Annahmen zu vorschnell? Was sind die viel zitierten "Daddy Issues" überhaupt? Und wenn man sich tatsächlich oft von älteren Männern angezogen fühlt, hat man dann ein offensichtliches Problem?
Christian Hemschemeier ist Psychologe und Paartherapeut, coacht auch in Online-Kursen und gibt gegenüber watson zu bedenken: "Wir alle haben Mummy- und Daddy-Issues. Einige Menschen haben das eben ein wenig mehr."
Ohne Klischees bedienen zu wollen: Die Konstellation jüngere Frau, älterer Mann scheint auch heute noch deutlich häufiger aufzutreten, als andersrum. Den Psychologen wundert das nicht. Ganz im Gegenteil, wie er ausführt:
Frauen hingegen würden sich länger für Männer ihres eigenen Alters interessieren. "Die fangen erst in den 60ern, 70ern an, sich ebenfalls für jüngere Männer zu begeistern", erklärt Hemschemeier.
Dahinter stecke der schlichte Grund, dass Männer "Frauen nach ihrer Gebärfähigkeit aussuchen, wenn auch völlig unbewusst", wie der Therapeut sagt.
Für einige ältere Männer sei eine junge Freundin zudem ein "regelrechtes Statussymbol". Genauso wie es für einige Frauen ein Statussymbol sei, einen einflussreichen, erfolgreichen Mann an ihrer Seite zu haben. Und das seien eben meist "ältere Männer", wie der Therapeut erklärt.
"Ich denke, dieses Phänomen wird es immer geben, weil es uralten Verhaltensmustern entspricht", schließt Hemschemeier.
Soweit der Ist-Zustand. Die eigentliche Frage aber bleibt: Ist das schlimm? Sollte man sich therapieren lassen, wenn man immer wieder mit Männern anbändelt, die viel älter sind als man selbst?
"Ich sehe da eigentlich kein Problem, zumindest als Psychologe", sagt Christian Hemschemeier deutlich. "Es ärgert mich eher, dass es immer heißt, wir sollen lieben dürfen, wie wir wollen, diese Paar-Konstellation aber so verachtet wird."
Während eine offene Beziehung oder gleichgeschlechtliche Liebe glücklicherweise zunehmend Akzeptanz erfährt, hat der Anblick einer jungen Frau im Arm eines älteren Mannes für viele etwas Rückwärtsgerichtetes an sich.
Das mag auch daran liegen, dass das Machtverhältnis zwischen einer jungen Frau und einem finanziell schon gefestigten älteren Mann unausgeglichen wirkt. Sex-Appeal gegen Luxusleben? Das klingt nach einem 90er-Jahre-Thriller.
Wenn beide einander in erster Linie als Statussymbol sehen, ist das zwar irgendwie unromantisch. "Aber wenn man ehrlich ist, folgt der Datingmarkt oft einem Austausch von Marktwerten", gibt der Paartherapeut zu bedenken, es sei nur nicht immer so offensichtlich.
Hemschemeier rät dazu, eine solche Beziehung nicht überzubewerten. "Ich würde das nicht so pathologisieren", sagt er klar, "weil sich das Ungleichgewicht dieser Paare sehr häufig von alleine reguliert".
Was er damit meint? Oft stellten beide Partner im Laufe der Beziehung "von ganz alleine fest", dass es eben doch nicht so recht passt mit dem großen Altersunterschied. Sie stört es vielleicht, dass er keine Träume mehr vom Ausland hat, ihn, dass ihr die emotionale Reife fehlt. "Solche Paare trennen sich sowieso bald wieder", winkt Hemschemeier ab.
Wohingegen die wenigen Paare, die langfristig zusammenbleiben, Werte und Interessen "über den Altersunterschied hinaus teilen" würden. "Die verstehen sich tatsächlich gut", gibt Hemschemeier zu bedenken. "Dann ist es eine glückliche Beziehung und braucht erst recht niemanden aufzuregen."
Allerdings, so betont der Therapeut, gebe es durchaus Vaterkomplexe und schädliche Bindungsmuster. Nur hätten sie weniger mit dem Alter zu tun, als wir landläufig denken.
Hemschemeier erklärt, was tatsächlich einen Blick wert sei: "Wenn man aus einem total kaputten Elternhaus kommt, kann es sein, dass man sich später an Menschen bindet, die einem nicht guttun." Dabei geht es allerdings "nicht darum, wie alt diese toxischen Leute sind, sondern welche verletzenden Eigenschaften sie aufweisen", erklärt der Therapeut.
Aus der Praxis kennt er das Phänomen, das bis ins Erwachsenenalter anhält:
Wer ein schlechtes Verhältnis zu seinem Vater hatte, oder auch gar keines, wird es vielleicht im Leben schwerer haben. Das kann aber auch einen Geltungsdrang im Beruf zur Folge haben oder zu großer Angst vor Veränderungen jedweder Art führen.
Ein schädliches Beziehungsmuster nur an einem Altersunterschied festzumachen, sei daher zu simpel. Außerdem, erklärt der Therapeut, ist die Partnerwahl auch bei gleichaltrigen Liebespaaren immer beeinflusst von den Eltern.
"Das muss überhaupt nicht schlimm sein", sagt Hemschemeier und führt aus:
Wir alle sind also nicht frei von Beziehungsmustern, die wir wiederholen. Oder wie Hemschemeier es abschließend auf den Punkt bringt: "Jeder datet eigentlich seine Eltern. Solange, bis er oder sie aktiv versucht, sich das abzugewöhnen."