In den ersten Jahren der Liebe scheint die Lust aufeinander so unendlich. Schon ein verschmitztes Lächeln oder ein Streifen mit dem Knie endet mit Gänsehaut, Gekicher und Sex. "Von diesem Menschen, seinem Geruch und seiner Haut, werde ich niemals genug bekommen", ist man sicher.
Doch ein paar Jahre später sieht es oft ganz anders aus: Der Alltag übernimmt und mit ihm Jogginghosen, Netflix und Terminabsprachen. Die Beziehung wird vertrauter, alltäglicher und spontaner Sex selten. Manchmal endet er auch ganz.
Wie kann das sein, wenn man die Partner:in doch immer noch liebt? Ist das nur eine vorübergehende Flaute? Oder das Ende der Beziehung? "Nein", sagt Julia Henchen. "Aber wenn der Sex extrem nachlässt, könnte das schon ein Hinweis darauf sein, dass etwas nicht stimmt."
Sie ist Sexualtherapeutin in Baden-Württemberg und erklärt im Gespräch mit watson weiter: "Es muss allerdings nicht unbedingt der Sex selbst sein, der nicht stimmt. Es kann auch sein, dass der fehlende Sex ein Symptom für etwas anderes ist, fehlende Nähe zum Beispiel. Das bedeutet aber nicht, dass man alle Hoffnung aufgeben muss."
Selten ist das Phänomen zumindest nicht. Fehlender Sex sei sogar der Hauptgrund, warum die meisten Menschen zu ihr in die Paartherapie gehen, sagt die Sexualpädagogin. Erst einmal müsse sich also keiner schlecht fühlen, weil die sexuelle Flaute auch eine ehemals sehr leidenschaftliche Liebesbeziehung erreicht habe.
"Grundsätzlich ist es völlig normal, dass es in Beziehungen Phasen gibt, in denen mal mehr mal weniger Sex stattfindet, je nachdem, wie das Leben eben gerade so läuft", versichert Julia.
Kinder, Stress auf der Arbeit oder eine räumliche Entfernung zueinander schränkten Zeit und Raum für Intimitäten eben manchmal ein. "Fühlt man sich ansonsten nahe und geborgen, muss man sich darüber nicht zu sehr den Kopf zerbrechen."
Dennoch machen sich viele Paare Gedanken, wenn die Sexfrequenz seltener wird, zweifeln an sich oder dem Gegenüber und das kann belastend sein. "Wenn ich als Paar irgendwann keinen Sex mehr habe, dann kann das natürlich durchaus was mit einer Partnerschaft machen, zu Streit und Trennung führen. Denn Sex bedeutet für viele Menschen auch: 'Hey, zwischen uns beiden ist alles okay'", berichtet die Sexualpädagogin. Wenn diese körperliche Rückmeldung wegfiele, sei das "oft verunsichernd" für alle Beteiligten.
Es geht also nicht nur um den Sex an sich, sondern auch darum, was mit ihm verbunden wird. Aus welchem Grund findet er seltener statt? Und aus welchem Grund wünscht man sich wieder mehr? Wie so oft geht es auch hier um Kommunikation und "wenn beide den Sex zurückwollen, kann man daran arbeiten", sagt Julia. Dafür ist zum Beispiel die Paartherapie da.
Schwierig für eine Beziehung würde es allerdings, wenn "die Bedürfnisse der Beteiligten weit auseinander gehen". Also einer in der Beziehung zum Beispiel daran arbeiten möchte, der andere aber gar kein Problem sieht und daher gar nichts am Status quo ändern möchte.
Aber "fehlender Sex an sich macht keine Beziehung kaputt", so die Therapeutin deutlich. Es gäbe Paare, die völlig zufrieden und glücklich miteinander seien, obwohl sie selten oder sogar gar nicht mehr miteinander körperlich intim wären. Julia Henchen: "Wenn beide weniger Sex möchten, kann das gut gehen."