"Das letzte Mal ist jetzt schon zwei Wochen her", "Immer hast du keine Lust", "Komm her, ich hab mir extra Zeit für dich genommen" – mit all solchen Sprüchen beginnt in manchen Wohnungen nicht etwa Streit, sondern Sex.
Einige Menschen fühlen sich verpflichtet, beim Geschlechtsverkehr mitzumachen, um nicht als lustlose Spaßbremse dazustehen. Doch den Körper herzugeben, um jemanden anderen happy zu machen? Das ist keine Liebe, sondern absurd und brutal.
Warum tun sich einige Menschen das selbst an und haben Sex gegen ihren Willen? Wie lernen wir Grenzen zu setzen, ohne uns schlecht zu fühlen? Und vor allem: was steckt überhaupt dahinter?
Wir fragten bei Michael Witt nach. Er ist Autor ("Meine Frau hat einen Neuen – und zwar mich!") und bietet systemische Einzel-, Paar- und Familientherapie in seiner Praxis in Berlin-Schöneberg an.
Er erklärt, dass eine:r in der Beziehung gerade mehr Lust hat, ist eigentlich kein Problem, denn es sei durchaus normal, "sich zum Sex verführen zu lassen, obwohl man im ersten Moment noch gar nicht so große Lust hatte."
Aber – und um diese Fälle geht es im Folgenden – wenn sich das Lustgefühl nicht einstellt, du stattdessen nur hoffst, es hinter dich zu bringen und dich danach traurig fühlst, genervt oder genötigt, ist das gar nicht gut!
Das Erschreckende: Es scheint gar nicht so selten zu sein, dass Menschen ohne echte Lust beim Sex mitmachen, um die Harmonie zu wahren. Das lassen zumindest Debatten auf Social Media zum Thema vermuten, auf denen zahlreiche Frauen ihre Erfahrungen teilen.
Viele berichten dabei von Verzweiflung im Anschluss. Für den Therapeuten ein klares Zeichen: "Wenn man sich danach schlecht fühlt, ist das ein deutliches Warnsignal unserer Gefühle und unseres Organismus, dass hier etwas nicht stimmt." Dann wäre es "ganz wichtig, das ernst zu nehmen. Und sich natürlich auch zu fragen: 'Warum sage ich nicht Nein'?"
Dahinter stecken meist uralte Verhaltensmuster, die ihre Wurzel noch in der Kindheit haben, aber auch von der Gesellschaft befeuert werden können, die uns das Gefühl gibt, dauergeil, engagiert und spontan sein zu müssen.
Michael Witt erklärt zu den Motiven der "Ja"-Sager:innen:
Manches Mal wird ein "Nein" auch tatsächlich gestraft mit Nähe-Entzug (kein Kuscheln mehr), Vorwürfen ("Du willst doch eh nie") oder emotionaler Manipulation ("Lange mache ich das nicht mehr mit"). Wer dann einknickt, sollte sich und dem Gegenüber bewusst machen: auch das ist erzwungener Sex.
Dennoch ist es nicht so einfach, auf den eigenen Körper zu hören und Bedürfnisse durchzusetzen. Der Therapeut erklärt, woran das liegt. "Praktisch jedem von uns wurde als Kind beigebracht, dass man brav, nicht kompliziert sein soll", sagt er. "Vermeintlich gutes, also angepasstes Benehmen, wurde gelobt. Kritisch oder ablehnend zu sein, wurde meist sanktioniert."
Der Wille, gefällig zu sein, sitzt oft so tief, dass man eher bereit ist, über die eigenen Grenzen zu gehen, als anzuecken. Für Kinder ergäbe das auch Sinn, sagt Witt, denn ihre Eltern sicherten ihnen "das Überleben". "Diese sehr sinnvollen Verhaltensweisen im Kindesalter sind allerdings hinderlich, wenn wir als Erwachsene Beziehungen gestalten wollen", resümiert er.
Das Verrückte ist, dass viele Betroffene gar kein Problem haben, im Beruf oder anderen Kontexten "Nein" zu sagen, weiß Witt. Aber in Partnerschaften viele es "schwieriger. Denn die Beziehung ist intensiver, die Verlustangst größer."
Es ist löblich, die Bedürfnisse des Gegenübers auf dem Schirm zu haben und ihnen entgegenzukommen. Aber nicht, wenn dafür die eigenen Bedürfnisse mit Füßen getreten werden müssen.
Wer sehr harmoniebedürftig sei, "vergisst oft, sich selbst wichtig genug zu nehmen", mahnt Michael Witt. Solche Menschen sollten sich klarmachen: "Die wichtigste Beziehung ist die zu uns selbst. Und wenn wir 'Nein' sagen zu anderen, sagen wir 'Ja' zu uns!"
Wer einander wertschätzt, sollte also immer sicher gehen, dass echter Konsens, nicht reine Gefallsucht, Verlegenheit oder Angst zum Geschlechtsverkehr führt.
Was zur Frage führt: wie sagt man "Nein", ohne den oder die Andere:n komplett vor den Kopf zu stoßen? Aus der Praxis weiß Michael Witt: "Die Sorge ist dabei oft, dass man den anderen verletzt, dass der andere wütend ist oder einen verlässt. Daher kann es hilfreich sein, ein 'Nein' gut zu verpacken."
Er gibt ein Beispiel:
Das alternative Angebot zur Nähe könnte auch ein Schlüssel zu mehr Lust sein, denn manche Menschen kommen erst dann in Wallungen, wenn sie sich dem Anderen emotional verbunden fühlen, nicht nur sexuell.
Im besten Fall nimmt das Gegenüber solche Angebote an und ein "Nein" nicht übel. Michael Witt glaubt aber, dass die Grenze etwas deutlicher gezogen werden muss, wenn bis dato eine Durch-Nörgeln-zum-Sex-Dynamik bestand:
Wer sich nach einer Abfuhr sofort ungeliebt fühlt, könnte eher mal hinterfragen, warum das so ist und welche Ängste dahinter stecken. Denn ein "Nein" zu hören, sollte immer noch besser sein, als Sex mit einem Menschen zu haben, der das nur widerwillig tut.