Von wegen Millennial-Erfindung: Die meisten Menschen auf dem Dating-Markt – egal welchen Alters – haben vermutlich schon einmal eine Situationship geführt. Eine tiefe Freundschaft mit Sex, die zwar über einen längeren Zeitraum läuft, aber nie den verbindlichen Zustand einer festen Beziehung erreicht.
In die meisten Situationships schlittert man hinein: Mal stellt man fest, dass man die immer gleiche Person anruft, wenn man sich einsam, betrunken oder geil fühlt. Dann wieder trifft man jemand großartigen – will aber in zwei Monaten auswandern. Oder es ist diese eine Person im Freundeskreis, mit der man ab und zu im Bett landet, obwohl der letzte Liebesfunke einfach nicht überspringt.
Warum sollte man auch auf eine schöne Verbindung mit einem liebgewonnen, attraktiven Menschen verzichten, nur weil sich schon abzeichnet, dass dies nicht für immer sein kann? Warum nicht die Zeit genießen? Oder ist es naiv so zu denken, weil solch vertraut-distanzierten Konstrukte immer einem der Beteiligten das Herz brechen?
Wir haben mit Andrea Bräu über die Liebe für den Moment und ihre Vor- und Nachteile gesprochen. Sie ist Paar- und Sexualtherapeutin in München und arbeitet als Beraterin des Portals "Ashley Madison".
"Fangen wir mit dem Vorteil an", sagt die Paartherapeutin zum Thema. Dieser liegt auf der Hand, denn der Situationship voran "steht die Unverbindlichkeit, ein großer Bestandteil des heutigen Zeitgeists". Wir möchten uns Optionen offenhalten, uns ausprobieren und frei sein. Gleichzeitig sehnen sich viele Singles auch nach Geborgenheit und einem sicheren Hafen, den nicht nur eine Beziehung liefern kann.
Dieser Wunsch nach relativer Sicherheit in halb-verbindlichen Verbindungen spiegelt sich in Dating-Erhebungen zum Thema Situationships wider, führt Andrea Bräu aus:
In einer Situationship können sich Singles also besser fallen lassen, als zum Beispiel im Vergleich mit einem ihnen eher fremden One-Night-Stand.
Doch in derselben Studie wird auch die Kehrseite der Medaille thematisiert. Denn Vertrauen ohne Verbindlichkeit führt manches Mal auch zu emotionalem Chaos. Die Paartherapeutin erklärt, was die Menschen als Nachteil empfinden: "Das Risiko, stärkere Gefühle zu entwickeln (58 Prozent)."
Zudem empfände es fast jede:r Dritte als schwierig, die emotionale Grenze in einer Situationship zu definieren (29 Prozent). Genauso viele Befragte haderten mit der Tatsache, dass sie nicht die Priorität der oder des Anderen seien. Ein weiterer Kritikpunkt, der mehrfach genannt wurde: "Wenig Verlässlichkeit", berichtet Bräu.
Die Paartherapeutin glaubt, dass viele sich im modernen Dating-Leben über ihre ureigenen Bedürfnisse hinwegsetzen. Klar gibt es ein paar überzeugte Freiheitsgeister, doch das sei kein emotionaler Mainstream. Sie erklärt: "Ich denke, dass sich viele Menschen von der Mode, die übrigens auch für Beziehungen gilt, stark beeinflussen lassen und weniger darauf achten, was sie sich im Grunde ihres Herzens wünschen."
Auch wenn Offenheit und Freiheit en vogue seien, wünschen sich viele mehr Verbindlichkeit und klare Absprachen, besonders in der Liebe. Nur scheint es auf dem Dating-Markt zuweilen fast peinlich, das einzugestehen: "Ich befürchte, dass sich Menschen häufig etwas vormachen, wenn sie ihre Unabhängigkeit hochhängen", sagt die Therapeutin deutlich.
Eine Situationship nach der anderen zu führen, ist also kein Liebesmodell, das die meisten Menschen auf Dauer erfüllt. Es sei im Singleleben wohl eher "eine Phase, die man durchläuft", beobachtet die Therapeutin.
Eine Liebesgeschichte, die nicht nur platonisch und nicht nur sexuell ist, aber dennoch kein echtes Commitment hervorruft, wirft nach einer Weile doch Fragen auf – spätestens dann, wenn ein Familientreffen ansteht oder eine dritte Person auftaucht. Dann muss man sich eben doch entscheiden: War das ein redundanter Fortsetzungsroman? Eine knackige Sommerlektüre? Oder gerade erst das Vorwort...