Ist es normal, wenn ich nach dem Orgasmus weinen muss?
Sex ist oft ein wenig wie eine Unterhaltung. Er kann fröhlicher Smalltalk sein, der einfach nur unterhält. Er kann zur anstrengenden Debatte mutieren, sich zäh und bemüht anfühlen – manchmal erleben wir aber auch einen Deep Talk im Bett: emotional, intensiv, ganz nah dran.
Da kann es schon mal passieren, dass Tränen kullern, während man gerade im Liebesspiel versinkt. Ist das ein gutes Zeichen oder ein Alarmsignal?
Wir haben Lea Holzfurtner gefragt. Sie ist klinische Sexologin und Autorin des Buches "Dein Orgasmus". Sie coacht Paare bei Orgasmus- und Lustproblemen in ihrer Praxis in Berlin oder online.
Viele Menschen werden von postkoitalen Tränen überrascht
"Postkoitale Tränen sind ein gar nicht so seltenes, faszinierendes, oft aber auch verwirrendes Phänomen", weiß die Expertin und berichtet aus ihrem Arbeitsalltag, dass eine Klientin ihr letztens im Coaching genau davon berichtete. Sie habe gesagt: "Wir hatten total innigen Sex, ich hab mich sicher gefühlt, es war wunderschön – und plötzlich hab ich geweint. Ich wusste nicht mal, warum."
Diese Konfusion ist verständlich, schließlich kann die Ursache dahinter vielfältig sein, weiß Holzfurtner:
Daher rät die Sexologin, sich zu fragen: Was genau hat mein Körper in diesem Moment gespürt? Was will da eigentlich beweint werden?
Ihre Klientin hätte beispielsweise erkannt, dass sie sich beim Sex ihrem Partner "so nahe wie sonst nie" fühle und die Tränen kämen, weil sie wisse, dass all das im Alltag wieder verschwinde. "Wir haben dann gemeinsam überlegt, wie sie sich dieses fehlende Bedürfnis nach Nähe auch außerhalb des Betts erlauben kann", erklärt Lea Holzfurtner und zeigt damit, wie das Weinen als Wegweiser zu unseren, mitunter verborgenen, Bedürfnissen genutzt werden kann.
Warum Tränen in körperlichen Extremsituationen fließen können
Im besten Fall lernen wir also aus den Momenten, in denen uns die Emotionen überrollen. Sie zu verstecken, ist unnötig, schließlich sind Tränen menschlich. "Weinen erfüllt mehrere psychologische, physiologische und soziale Funktionen", führt Holzfurtner aus, "es ist weit mehr als nur ein Ausdruck von Trauer oder Schmerz."
Weinen hat biologisch betrachtet eine sinnvolle Funktion, nämlich den Stressabbau, wie sie erklärt:
Durch Tränen können wir uns selbst regulieren und intensive Emotionen, wie Frust, Wut und sogar Freude besser verarbeiten, sagt Holzfurtner. Weinen trete aber auch bei Überforderung oder Verzweiflung auf, "wenn Menschen in innerpsychischen Spannungsfeldern stecken – zum Beispiel zwischen Nähe und Autonomie, Wunsch und Angst, Ohnmacht und Kontrolle."
Was bedeutet das im sexuellen Kontext? Die Sexologin zählt typische Ursachen für Tränen auf:
- "Beim Orgasmus kommt es zu einer intensiven Aktivierung des Nervensystems und danach kann das Weinen eine Art seelisches Ausatmen sein."
- "Beim Sex entsteht oft eine extrem hohe körperliche und emotionale Nähe. Das kann überwältigend sein, vor allem, wenn man selten so tiefen Kontakt erlebt. Weinen kann hier ein Ausdruck von Bindungshunger, Verlustangst oder sogar Dankbarkeit sein."
- "Nach dem Orgasmus werden Hormone wie Prolaktin, Oxytocin und Endorphine ausgeschüttet – teils in massiven Schwankungen. Diese hormonellen Veränderungen können Stimmungsschwankungen begünstigen, ähnlich wie beim Weinen nach intensivem Sport oder nach Wehen."
Oft steckt dahinter also eine postkoitale Entspannung und Erleichterung. Manchmal aber auch Überwältigung durch (ungewohnt) emotionale Nähe. In Frankreich bezeichnet man den weggetretenen Zustand während und nach einem Höhepunkt übrigens als "kleinen Tod" ("petite mort") – wie passend in diesem Zusammenhang.
Wichtig: Sprecht miteinander über das Weinen, wenn es passiert
Doch selbst wenn der Gefühlsausbruch ein reines Kompliment ist, der Orgasmus schlicht hyperintensiv war und die gefühlte Liebe wahnsinnig groß, ist es besser, kurz über die Tränen zu sprechen. Zu kommunizieren, dass es einem gut geht. Denn, sagt Lea Holzfurtner:
Schließlich kann das Gegenüber nicht sicher sein, dass die Tränen nicht doch auf körperliche oder seelische Schmerzen hinweisen. Sind sie einfach nur Zeichen großer Gelöstheit, darf man sie genießen. Holzfurtner erklärt: "Weinen zeigt deinem Gegenüber eigentlich auch etwas Wunderschönes, nämlich: 'Bei dir lasse ich meine Schutzmechanismen fallen.'"
Zusammengefasst gibt es keinen Grund, sich für einen schluchzigen Gefühlsausbruch beim Sex zu schämen. Was genau dir die Tränen sagen wollen, musst du allerdings selbst erhorchen. Das lohnt sich, glaubt die Sexologin abschließend, denn: "Weinen kann Ausdruck von tiefem Vertrauen sein – oder auch ein Hinweis auf emotionale Blockaden, die sich lösen..."
