Tiktok diagnostiziert exekutive Dysfunktion – doch Experten warnen
Auf Tiktok gehen schon seit einiger Zeit Videos von Creator:innen viral, die ein Gefühl in Worte fassen, das viele kennen: eine Erschöpfung, die selbst kleine Alltagsaufgaben blockiert. Ein Creator offenbart in einem Einblick in sein eigenes Leben, wie schwer es sein kann, Mahlzeiten zuzubereiten, Nachrichten an Freund:innen zu beantworten oder abends rechtzeitig das Handy wegzulegen.
Der Creator hinter diesem Tiktok beschreibt, welche Konsequenzen das für ihn hatte. Seine Karriere sei ruiniert, seine Familie habe sich abgewandt, viele Freundschaften seien zerstört. Lange deutete er sie als persönliche Faulheit – bis er begann, das Verhalten in einem anderen Licht zu sehen.
Er habe eine sogenannte "exekutive Dysfunktion". Hunderte Tiktoker:innen klären seit Monaten über das Phänomen auf. Was ist also dran an der erleichternden Selbstdiagnose?
Unterschied: Exekutive Funktion und Dysfunktion
Das Konzept der "Exekutiven Funktion" beschreibt die Fähigkeit, den Alltag zu strukturieren und Aufgaben zu steuern. Dazu gehören unter anderem das Planen, Priorisieren und das Abschätzen, wie viel Zeit ein einzelner Schritt in Anspruch nimmt, bevor man zur nächsten Aufgabe übergeht.
Woher kommen dann die Symptome?
Die Psychiaterin Mai Uchida, die auch Professorin an der Harvard Medical School ist, erklärt dem "Guardian" gegenüber, dass die Schwierigkeiten vor allem ein Hinweis auf tieferliegende psychische Erkrankungen sein können.
Warum Selbstdiagnosen problematisch sind
Dieser Text beschäftigt sich mit Symptomen psychischer Krankheiten. Er kann hilfreich sein, da im Alltag oft nicht offen genug darüber gesprochen wird: um das Thema zu enttabuisieren und Menschen dazu zu ermutigen, sich professionelle Hilfe zu suchen.Aber dieser Artikel soll nicht zu einer Selbstdiagnose verleiten. Er ersetzt keine professionelle Diagnose und Behandlung. Nur ausgebildete Ärzt:innen oder Therapeut:innen haben auch Kenntnis über weitere Umstände, die das Abgrenzen von Erkrankungen mit ähnlicher Symptomatik ermöglichen.
Besonders häufig treten sie in Verbindung mit ADHS auf. Uchida betont jedoch: "Es gibt auch einige Menschen mit ADHS, die überhaupt keine Schwierigkeiten mit der exekutiven Funktion haben".
Der Psychologe Ari Tuckman Pennsylvania erklärt außerdem, dass sich diese Fähigkeiten im Laufe des Lebens wandeln. So verfügen Erwachsene in der Regel über bessere exekutive Funktionen als Kinder, während im höheren Alter ein gewisser Rückgang normal ist. Auch hormonelle Veränderungen – etwa in den Wechseljahren – können deutliche Einflüsse haben.
Doch nicht nur langfristige Faktoren spielen eine Rolle. "Wenn du eine Nacht mit schlechtem Schlaf hast oder gerade die Grippe hast, sind deine exekutiven Funktionen ebenso betroffen", erläutert Tuckman dem "Guardian". Stress, Alkohol, Kopfverletzungen oder schlicht ein überfüllter Terminkalender können kurzfristig ebenso gravierende Auswirkungen haben.
Tipps & Tricks, wie die Symptome besser werden
Für diese Schwierigkeiten selbst gibt es keine direkte Therapie – wohl aber erprobte Strategien, um den Alltag handhabbarer zu machen. Tuckman zufolge müsse man "das Rad nicht neu erfinden".
Klassische Hilfsmittel wie mehrere Erinnerungen und Wecker, handschriftliche To-do-Listen oder das bewusste Vermeiden von Ablenkungen gehören dazu. Wer etwa kurz vor einer Abgabefrist weiß, dass er beim Scrollen auf Instagram regelmäßig die Zeit verliert, sollte die App besser für eine Weile vom Handy löschen.
Auch kleine Schritte können den Einstieg erleichtern. Wer vor der Größe einer Aufgabe zurückschreckt, sollte sich zunächst auf ein kurzes Zeitfenster festlegen. Ein niedrigschwelliges Ziel von 15 oder sogar nur fünf Minuten erleichtere es, anzufangen, erklärt Uchida. Oft komme die Motivation nach den ersten Minuten von selbst, manchmal sei aber auch eine Pause nötig, bevor man erneut ansetze.
Entscheidend sei, die Methode zu finden, die individuell funktioniert. Zusätzlich könne es sich lohnen, das eigene Umfeld einzubeziehen. Ob Freund:innen, Kolleg:innen oder Partner:innen – sie können wertvolle Hinweise geben, wo Schwierigkeiten auftreten, und gemeinsam mit den Betroffenen alternative Lösungen entwickeln.
