Auf Tiktok geht es längst nicht mehr nur um harmlose Kurzclips. Propaganda und gefährliche Trends stehen an der Tagesordnung. Gesund ist das stundenlange Abhängen auf Tiktok und anderen Social-Media-Plattformen sowieso nicht.
Einer der gefährlichen Trends nennt sich #skinnytok – eine Mischung aus "skinny" (dünn) und "Tiktok" – und verherrlicht gefährlich untergewichtige Körper. Er grassiert schon seit Längerem. In Frankreich hat dieser Trend nun eine massive Protestwelle ausgelöst.
Aus einem Krankenhaus in Isère kommt die massive Gegenbewegung: Die 25-jährige Krankenschwester Charlyne Buigues hat die Petition "Stop Skinnytok" gestartet, setzt sich politisch ein – und warnt vor den massiven Folgen, die sie tagtäglich erlebt.
Buigues arbeitet mit Jugendlichen zwischen 13 und 18 Jahren, wird in ihrer Klinik jeden Tag mit den Folgen von Essstörungen konfrontiert. Viele ihrer Patient:innen sind unterernährt, müssen künstlich ernährt werden, verlieren Zähne und Haare – alles, um einem Ideal hinterherzulaufen. Einem, das auf Social Media, etwa Tiktok, tagtäglich befeuert wird. "Gestern hatte ich wieder eine Jugendliche vor mir, deren Zustand sich durch Social Media verschlechtert hat", erzählt Buigues im Interview mit Radio France.
Besonders problematisch: Viele ihrer jungen Patient:innen stoßen in ihrer For-you-Page auf Diät-Challenges wie "Eine Woche nur Eier essen" oder "Wasserfasten". Oft kommt Werbung hinzu, in der versprochen wird, 20 Kilo in einem Monat zu verlieren. "Diese Inhalte machen krank", sagt Buigues. Und: "Die meisten Jugendlichen sind viel zu jung, um zu erkennen, wie gefährlich das ist."
Ihr Rat an Betroffene ist radikal, aber klar: "Löscht die App. Ich schlage meinen Patientinnen oft eine Challenge vor: Eine Woche ohne TikTok." Das Feedback sei oft überwältigend. Einige Mädchen hätten die App dauerhaft gelöscht. Eine ihrer Patientinnen sagte ihr: "Charlyne, danke – ich kann wieder atmen."
Was sie mit einem persönlichen Instagram-Kanal für Aufklärung und Austausch begann, ist nun eine Bewegung: Fast 27.000 Menschen haben die Petition von Buigues bereits unterschrieben. Auch in ihrer Klinik stößt sie auf breite Unterstützung. Die Eltern bedanken sich auf dem Klinikflur bei ihr dafür.
Für viele ist Charlyne Buigues zur Stimme ihrer Kinder geworden – und zur Kämpferin. Am Vormittag des 2. Mai traf sie sich mit Marina Ferrari, der französischen Staatssekretärin für Digitales und Künstliche Intelligenz. Ihr Ziel: Tiktoks Algorithmen besser verstehen – und Druck machen. "Warum entwickeln wir keine KI, die extrem abgemagerte Körper erkennt und solche Inhalte blockiert?", fragte Buigues im Interview mit Radio France. Voraussetzung dafür: eine enge Zusammenarbeit mit medizinischem Fachpersonal.
Politisch kommt aktuell bereits einiges ins Rollen: Im April hat die französische Ministerin für digitale Medien, Clara Chappaz #SkinnyTok der audiovisuellen und digitalen Aufsichtsbehörde des Landes und der EU gemeldet. Zudem stimmten die französischen Gesetzgeber der Einrichtung einer parlamentarischen Kommission zu, die die psychologischen Auswirkungen von der Plattform auf Kinder und Jugendliche untersuchen soll, wie der "Guardian" berichtete.
Auch Tiktok hat auf den Trend reagiert: Die Plattform zeigt bei Eingabe von #Skinnytok einen Warnhinweis mit Hilfsangeboten. An die Videos kommen User:innen aber trotzdem und der Algorithmus begünstigt nach wie vor schädliche Videos.
Neben politischem Druck setzt Buigues auf Aufklärung. Auf ihrem Instagram-Kanal @aucoeurdestca ("Im Herzen der TCA", TCA steht für troubles du comportement alimentaire – Essstörungen) teilt sie regelmäßig Informationen und Erfahrungsberichte. Dort warnt sie vor Tiktoks potenziell toxischem Einfluss – und ruft ihre Follower:innen zum aktiven Widerstand auf: "Wenn ihr auf solche Hashtags stoßt: nicht liken, nicht speichern, nicht teilen. Und sofort melden."
Dass Essstörungen längst ein Massenphänomen sind, zeigt ein Blick auf die Zahlen: Eine Studie der Stiftung Gesundheitswissen aus dem Jahr 2024 ergab, dass bei 20 Prozent der 12- bis 17-Jährigen in Deutschland Hinweise auf eine Essstörung vorliegen. Mädchen sind dabei nahezu doppelt so häufig betroffen wie Jungen.
Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung verstärkt. Daten des Verbands der Ersatzkassen (VdEK) zeigen, dass die stationären Aufnahmen wegen Magersucht bei Kindern zwischen 9 und 14 Jahren im Jahr 2023 im Vergleich zu 2019 um 42 Prozent gestiegen sind. Bei Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren um 25 Prozent.
Auch weltweit sind die Zahlen alarmierend: Bis zu 8,4 Prozent der jungen Frauen und bis zu 2,2 Prozent der jungen Männer sind von Essstörungen betroffen.
Der Druck, schön, schlank und optimiert zu sein, beginnt offenbar früh – und wird auf Plattformen wie Tiktok mit Likes belohnt. Dazu kommt das ständige Vergleichen via Social Media, das Essstörungen nachweislich befeuert und tendenziell unzufriedener macht.