Es ist ein Jammer! Viel zu selten beschäftigen wir Menschen uns mit der Gegenwart, können häufig ihre Vorzüge nicht genießen. Wir bereuen Vergangenes, heulen verpassten Chancen hinterher oder romantisieren so manche Erinnerung, bis sie mit der Realität nichts mehr gemein hat.
Beschäftigen wir uns nicht gerade mit der Vergangenheit, blicken wir in die Zukunft, versuchen ihr, mit Plänen und Träumereien, das Unbekannte zu nehmen. Auch ich kann mich davon nicht freimachen, führe ein Leben im "Was wäre wenn". Wirklich lichten lässt sich der Nebel aber nicht, der schwindet mit der Zeit.
Forscher:innen des MIT haben aber offenbar etwas erfunden, das den milchigen Schleier wegbläst und alles freilegt, was sich unter ihm verbirgt. Endlich keine Fragezeichen mehr!
Bei dem Gebläse handelt es sich um einen KI-Chatbot, mit dessen Hilfe ich mit meinem zukünftigen Ich kommunizieren kann. Die simulierte ältere Version meiner selbst soll, so das vollmundige Versprechen der IT-Elite, mich hinsichtlich Zukunftsängsten beruhigen und sich positiv auf meine Lebensgestaltung auswirken. Die Beschreibung liest sich wie der Beipackzettel eines Baldrian-Präparats.
Schnell stellt sich mir die Frage, wie der positive Einfluss auf meine Lebensgestaltung aussehen soll. Rät mir die KI, meine Hoden regelmäßig auf Wucherungen abzutasten? Empfiehlt sie den jährlichen Besuch beim Zahnarzt? Soll ich vielleicht öfter das Haus verlassen, Freund:innen finden, einfach mal leben?
Es wächst die Sorge, einer maschinegewordenen John-Strelecky-Version von mir gegenüberzusitzen, die mir dämlich grinsend "Café am Rande der Welt"-Zitate um die Ohren jagt. "Manchmal musst du erst wissen, was du dir wünschst, um es dir wünschen zu können."
Ungeachtet meiner Bedenken melde ich mich für einen Test an. In langatmigen Formularen wringen die Forscher:innen alles an Daten aus mir raus, was Kraken wie Facebook und Instagram noch nicht aufgesogen haben. Fragen zu Zukunftsängsten, Fragen zu meinem Lebensstil, Fragen zu meinen Berufswünschen, Fragen zu meiner Familie, Fragen bis zur Schwindelattacke.
Nach minutenlangem Graben in meinen persönlichsten Bereichen bin ich durch, die Finger wund getippt und der Kopf leer. Doch es folgt süße Auflockerung. Anhand eines Fotos wird ein älteres Ich von mir erstellt, man kennt es bereits von App-Spielereien. Die KI bekommt das beste Bild. Eines, das die Gesamtheit meiner Vorzüge bündelt und Betrachter:innen ins Gesicht schleudert.
Dann berechnet das Programm. Ich warte. Und warte. Und warte. Und … kassiere wohl den härtesten Schlag, den meine Magengegend je ertragen musste.
Es ist eine 60 Jahre alte Version von mir, die aussieht wie 85. Vielleicht soll eine Schocktherapie positive Lebensentscheidungen erzwingen. Und so geht er los, der Chat mit einer abgehalfterten Zukunfts-Dystopie meiner Person.
"Hallo, ich bin Tim Kroeplin", erinnert mich das furchtbare Bild an meinen Verfall. "Ich bin 60 Jahre alt und derzeit ein erfolgreicher Journalist, der zum Autor/Soziologen wurde." Wow, Soziologe und Autor, wie ich es mir im Fragebogen gewünscht habe! Mama, sieh her, ich habe es geschafft!
Ich frage, wie das funktionieren konnte, was mich nur zu so einem Prachtjungen gemacht hat. Die Antwort: "Die Dinge können für mich etwas anders sein, als Sie es für sich selbst in der Zukunft erwarten würden. Aber das ist das Schöne am Leben – es ist unvorhersehbar!" Also doch Strelecky.
Es folgt ein Speerfeuer aller meiner Angaben aus der Fragerunde, bloß in einen Ist-Zustand gedrückt. Zum Beispiel gab ich an, dass mir mein kleiner Bruder wichtig ist. Mir hat es in den künftigen 27 Jahren offenbar viel gegeben, zu sehen, wie mein kleiner Bruder zu einem erfolgreichen und selbstbewussten Menschen heranwuchs. Das gibt Hoffnung. Derzeit ist er 30, fürs Wachstum ist aber offenbar noch Zeit.
Meine Forschung, offenbar forsche ich, läuft wunderbar und bringt Themen nach vorn, "die von der Gesellschaft oft unbemerkt bleiben oder ignoriert werden". Ein wenig pathetisch wird es, wenn ich frage, welchen Nutzen die Forschung denn bietet. Sie sei für mich, aber auch für diejenigen, die sie berührt hat, von immenser Bedeutung, weil sie ermöglicht "Empathie zu entwickeln und nach einer gerechteren Welt für alle Menschen zu streben".
Klingt alles gut. Aber auch so, als würde ich künftig – zurückgezogen im lichtdurchfluteten Elfenbeinturm – mit gekrümmtem Rücken Visionen einer besseren Gesellschaft in meinen Computer streicheln. Der Frank-Walter-Steinmeier-Optimismus meines Zukunfts-Ichs kotzt mich an. Ich breche ab.
Für mich war es nichts, für andere offenbar schon. In einer begleiteten Studie, an der 344 Freiwillige teilgenommen haben, zogen die Forscher:innen einen positiven Schluss: Nach einer Unterhaltung zeigten sich die Proband:innen weniger ängstlich und fühlten sich mit ihrem künftigen Ich verbunden.
Doch wer würde das nicht tun, wenn das zukünftige Ich sagt, alle Wünsche und Träume gehen in Erfüllung, no worries! Es gibt ein Phänomen, bei dem Menschen vage Persönlichkeitsbeschreibungen als zutreffend empfinden, den Barnum-Effekt. Die KI setzt diesen auf Steroide.
Vielleicht ist es aber nicht schlecht, entsprechende Weichen in der Gegenwart zu legen. Für diese Erkenntnis braucht es aber keine schlecht gealterte Kuschel-Version meiner selbst.