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Angst nach dem Alkohol: Warum zum Hangover auch Panikattacken gehören können

Wenn zum Kopfweh nach einer durchzechten Nacht auch noch diffuse Ängste kommen, fühlt sich das alles andere als angenehm an.
Wenn zum Kopfweh nach einer durchzechten Nacht auch noch diffuse Ängste kommen, fühlt sich das alles andere als angenehm an.Bild: iStockphoto / fizkes
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Hangxiety nach dem Trinken: Wenn zum Kater die Panikattacken kommen

07.06.2022, 10:2507.06.2022, 11:55
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Hangxiety, also die Mischung aus einem Hang Over nach dem Alkoholkonsum und diffuser Angst, auf Englisch Anxiety, klingt erstmal lustig. Sie erinnert an die Wortschöpfung hangry, den Zustand eines Menschen, der wütend, weil hungrig ist. Dieser Begriff ist so verbreitet, dass er inzwischen bereits im altehrwürdigen Oxford Wörterbuch zu finden ist.

Doch Hangxiety ist ein wissenschaftlicher Begriff und bezeichnet beispielsweise Kopfschmerzen, Magenverstimmung, Zittern, Gefühle von Angst und Überforderung sowie Kurzatmigkeit nach dem Konsum von Alkohol. Laut einer Studie im Journal of Clinical Medicine leiden ganze 12 Prozent nach dem Trinken unter diesem Phänomen. Doch warum entstehen diese Gefühle nach dem Genuss von Alkohol und wie werden wir sie wieder los?

Watson hat darüber mit dem Experten Dr. Andreas Jähne gesprochen. Er ist Ärztlicher Direktor der Oberberg Fachklinik Rhein-Jura, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und unter anderem zertifizierter Therapeut für alkoholismusspezifische Psychotherapie.

Dr. med. Andreas Jähne, Ärztlicher Direktor der Oberberg Fachklinik Rhein-Jura.
Dr. med. Andreas Jähne, Ärztlicher Direktor der Oberberg Fachklinik Rhein-Jura. Bild: www.oberbergkliniken.de

watson: Erst einmal grundsätzlich gefragt: Es heißt ja Hangxiety – also die Angst kommt mit dem Kater. Welche chemischen Vorgänge liegen einem Kater im Körper zugrunde?

Dr. Andreas Jähne: Genau genommen ist das wissenschaftlich nicht geklärt. Es gibt drei Hypothesen, wie dieser, nennen wir es "Nachhalleffekt" des Alkohols, zustande kommt. Zum einen werden Abbauprodukte des Alkohols, andere Alkohole oder organische Verbindungen, die sich im Rahmen des Stoffwechsels im Körper ansammeln, dafür verantwortlich gemacht, dass Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Erschöpfung und andere Probleme nach dem Alkoholkonsum auftreten.

Welche Erklärungsversuche gibt es noch?

Eine andere Hypothese geht vom Verlust an Flüssigkeit aus, weil der Alkohol die Ausscheidung anregt, die zum Verlust von Salzen und Mineralien führt. Und schließlich wird eine entzündliche Ursache für den Kater angenommen. Dass also entweder durch den Alkohol selbst, durch Alkoholabbauprodukte oder durch die veränderte Salz- und Wasser-Zusammensetzung kleine Mikroentzündungen ausgelöst werden, die den Kater verursachen. Es gibt für jede dieser drei Hypothesen sowohl Bestätigungen wie auch Widerlegungen.

"Am nächsten Morgen, wenn der Alkohol abgebaut ist, ist die Bremse weg, und es kommt eine überschießende Reaktion."

Aber wie der Kater ausfällt, ist ja bei jedem sehr individuell oder?

Der Kater ist nicht direkt und klar berechenbar. Bei manchen Menschen sind es bestimmte Alkoholika, die den Kater verursachen. Manche erleben zum Beispiel, dass ein Kater nur nach Rotwein kommt, nach Weißwein dagegen nicht. Manchmal tritt ein Kater auf, wenn man eine Mischung verschiedener Alkoholika zu sich nimmt, "durcheinander trinkt". Bei dem einen ist es so, beim anderen nicht – das scheint individuell verschieden zu sein, und es scheint auch von der Situation abhängig zu sein. Einmal die gleiche Menge, keinen Kater, das nächste Mal sehr wohl. An manchen Tagen sind Menschen empfindlicher für den Kater oder Hangover als an anderen. Was wir aber wissen, ist, dass die Menge des getrunkenen Alkohols der größte Risikofaktor für die Entwicklung eines Hangovers ist. Also, mit wenig Alkoholkonsum kommt kein Kater oder selten. Und mit höherem Alkoholkonsum eher.

Und wie wirken diese chemischen Vorgänge im Körper mit der Psyche zusammen, sodass dann mit dem Kater auch die Ängste kommen?

Da gibt es auch wieder zwei wesentliche Ansätze. Der eine ist, dass "Hangxiety" die direkte Wirkung dieser, nennen wir es mal "Alkoholabbaustoffe" ist, also, dass man eine ähnliche Wirkung spürt wie beim Alkohol selbst. Alkohol ist ja eine psychotrope Substanz, die zum Beispiel müde macht oder entspannend wirkt oder Hemmungen abbaut. Aber es gibt eben auch bestimmte andere Abbausubstanzen, Essigsäure zum Beispiel, die Ängste auslösen können.

Und welchen Grund für die Entstehung von Hangxiety sieht der andere Ansatz?

Die andere Möglichkeit ist, dass der Alkohol selbst entspannend und Angst lösend wirkt. Manche Menschen konsumieren den Alkohol, um zum Beispiel Panikattacken oder Alpträume zu unterdrücken. Das wirkt wie so eine Art Angstbremse. Und am nächsten Morgen, wenn der Alkohol abgebaut ist, ist die Bremse weg, und es kommt eine überschießende Reaktion. Das, was unterdrückt war, kommt wieder hoch. Es kann sein, dass manche Menschen dann Angst bekommen. Auch das Phänomen kennt man während des Alkoholentzugs. Wenn Menschen in die Klinik zur Entgiftung kommen, reagieren manche an den ersten drei Tagen mit Ängsten, auch ohne, dass das jetzt mit Abbau zu tun hat. Wir sind nicht sicher, vielleicht sind es aber auch beide Mechanismen, die sich gegenseitig überlagern.

"An manchen Tagen sind Menschen empfindlicher für den Kater oder Hangover als an anderen."

Ein Kater geht ja meist nach ein paar Stunden oder einem Tag vorbei. Gehen die Ängste dann auch weg?

Jein. Es gibt Menschen, bei denen die Angst tatsächlich eine reine Katerwirkung ist, die spontan mit Abklingen der anderen Kater-Symptome endet. Jetzt gibt es aber auch Menschen, die eine psychiatrische Erkrankung haben, zum Beispiel eine Angststörung oder eine Depression. Dann kann es sein, dass die Ängste nach dem Kater bestehen bleiben. Das ist streng genommen eigentlich kein Katerphänomen mehr, sondern durch den Entzug wird ein Rebound-Effekt [überschießende Gegenreaktion, Anm. d. Red.] losgetreten. Da kann es tatsächlich sein, dass diese Ängste nach dem Kater bestehen bleiben und dann auch tatsächlich behandelt werden müssen.

Der Konsum von Alkohol gehört für die meisten zum Ausgehen einfach dazu.
Der Konsum von Alkohol gehört für die meisten zum Ausgehen einfach dazu.Bild: iStockphoto / ViewApart

Hangxiety betrifft besonders schüchterne und introvertierte Typen – warum?

Hinter diesen schüchternen Typen verbergen sich oft ängstliche Menschen oder Menschen mit Ängsten, zum Beispiel mit sozialen Phobien, also Angst vor der Bewertung anderer etc. Das sind eher zurückgezogene und unsichere Menschen. Dass diese Menschen leichter Ängste entwickeln als jemand, der eine sehr feste, selbstsichere und wenig zu erschütternde Persönlichkeit hat, liegt eigentlich auf der Hand. Aber im Umkehrschluss kann man nicht sagen, dass jeder unsichere Mensch zu Hangxiety neigt und jeder Extrovertierte nicht. Bekannt ist aber eine Häufung des Phänomens bei Frauen – sie haben doppelt so häufig Ängste oder behandlungsbedürftige Angststörungen wie Männer. Dafür entwickeln Frauen weniger häufig eine Alkoholabhängigkeit als Männer. Vielleicht schützt hier die Angstsymptomatik vor der Entwicklung einer Abhängigkeit.

"Bekannt ist eine Häufung des Phänomens bei Frauen – sie haben doppelt so häufig Ängste oder behandlungsbedürftige Angststörungen wie Männer."

Also kann Angst auch etwas Positives haben?

Tatsächlich. Zumindest, wenn es noch keine Abhängigkeit gibt. In jungem Alter, in den Zwanzigern, macht man seine Trinkerfahrungen, da wird man von der Peergroup beeinflusst. Und wenn man dann die Erfahrung macht, es geht einem schlecht, wenn man Alkohol trinkt, dann machen die wenigsten das Gleiche wieder.

Und gibt es, außer nicht zu trinken, noch eine andere Strategie wie man Hangxiety vermeiden kann?

Die beste Vorsorge gegen einen Kater ist eben, keinen Alkohol oder wenig Alkohol zu trinken. Die Ursache ist der Alkoholkonsum. Das heißt, wenn du einen Kater vermeiden willst, darfst du gar nicht oder musst weniger trinken. Punkt. Auf gar keinen Fall sollte man den Alkohol noch mit irgendwelchen anderen Drogen kombinieren. Cannabis als Beruhigungsmittel zum Beispiel ergibt nicht überschaubare Mischungen in der Wirkung.

"Die eine Strategie für alle Fälle gibt es nicht, die Neigung zum Kater ist individuell und situativ verschieden."

Und nach Konsum von wenig Alkohol, wie kann ich versuchen, den Kater zu vermeiden?

Da gibt es mehrere Strategien. Das eine ist, ausreichend Wasser trinken. Das steht in Zusammenhang mit der Hypothese, dass der Körper durch den Alkohol zu viel Wasser verliert. Mit dem Wasser verliert der Körper auch Natrium, Kalium, Kalzium, Magnesium, die in eher sauren und salzigen Nahrungsmitteln wie sauren Gurken oder Heringen enthalten sind. Deswegen haben manche Menschen auf solche Lebensmittel Appetit nach dem Alkoholkonsum. Manche nehmen vorbeugend ein Medikament gegen Kopfschmerzen. Aber die eine Strategie für alle Fälle gibt es nicht, die Neigung zum Kater ist individuell und situativ verschieden. Auch das ist eigentlich ein Argument dafür, den Kater vorbeugend durch weniger Alkoholkonsum zu behandeln.

Was ist mit dem Konter-Bier?

Mit dem Bier am Morgen nach der Partynacht lindern Sie, medizinisch ausgedrückt, Entzugssymptome. Sie führen eine kleine Menge Alkohol zu, um die Effekte, die von der Abstinenz verursacht werden, zu lindern. Davon würde ich abraten. Das ist keine Therapie, sondern der Schritt in die Abhängigkeit. Daraus entwickelt sich dann ein Ritual und damit verfestigt sich das Verhalten. Und dann kommt irgendwann die körperliche Gewöhnung dazu. Nicht machen – lieber weniger Alkohol.

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