Mythos Mutterinstinkt: Warum Frauen nicht automatisch Mütter sein müssen
Watson: Verena, in deinem Buch schaust du dir an, woher eigentlich die gesellschaftliche Erwartung kommt, dass Frauen Mütter werden müssen. Dabei hast du herausgefunden, dass der "Mutterinstinkt" erfunden wurde. Wie kann das sein?
Verena: Der Begriff "Mutterinstinkt" klingt so, als gäbe es ein angeborenes, ausschließlich weibliches Bedürfnis nach Kindern. Aber Studien zeigen etwas anderes: Sowohl Frauen als auch Männer verfügen über Beschützerinstinkte. Die sind im Gehirn messbar, bei beiden Geschlechtern in ähnlicher Stärke. Natürlich setzt dieser sowie der Bindungsprozess bei Frauen schon während der Schwangerschaft ein. Väter holen das dann nach der Geburt auf, wenn sie Zeit mit dem Kind verbringen. Aber grundsätzlich ist dieser Instinkt nichts, was exklusiv Frauen vorbehalten wäre.
Damit wäre ja eines der gesellschaftlich stärksten Argumente, warum Frauen Kinder kriegen sollten, entkräftet.
Auf alle Fälle eins der stärksten, genau. Und wenn man sich anschaut, wie lange patriarchale Strukturen schon unser Denken prägen, wird klar, warum diese Zuschreibungen so tief verankert sind. Seit Jahrhunderten gilt der Mann als Versorger, die Frau als Kümmernde, Mütterliche. Dieses Bild wird kulturell, medial und gesellschaftlich immer wieder reproduziert. Kein Wunder also, dass wir es glauben. Diese Vorstellungen beeinflussen die Entscheidung ums Kinderkriegen mehr als ein "Mutterinstinkt".
Du stellst außerdem fest, dass es im Duden Begriffe wie "Vaterinstinkt" oder "Vaterglück" gar nicht gibt.
Ja, das ist doch verrückt, oder? Sprache prägt Realität. Wenn es diese Begriffe für Väter gar nicht gibt, zeigt das sehr deutlich, wie tief verankert diese Rollenbilder sind. Wer sich ihnen fügt, hinterfragt sie vielleicht nie. Erst wenn man selbst nicht in dieses klassische Bild passt, beginnt man zu zweifeln – und merkt, dass vieles von dem, was als "natürlich" gilt, eigentlich nur kulturell geformt ist.
Diese Rollenbilder sind wohl allgegenwärtig. Dazu gehört auch, dass Frauen eher abgewertet werden, wenn sie sich gegen Kinder entscheiden, als es bei Männern der Fall ist.
Ja, das ist dieser doppelte Standard. Männer werden oft schon gefeiert, wenn sie sich halbwegs gleichberechtigt in die Elternschaft einbringen, während Frauen permanent Gefahr laufen, kritisiert zu werden – egal, wie sie sich entscheiden. Die strukturelle und finanzielle Benachteiligung für Mütter ist real. Dazu kommt der biologische Zeitfaktor. Für Männer gibt es dieses zeitliche Druckgefühl viel weniger. Das macht die Situation für Frauen eindeutig härter.
Die Entscheidung ist nicht einfach. Du schreibst im Buch, dass viele Frauen sich dahingehend in einem ambivalenten Zwischenraum befinden.
Es gibt Frauen, die schon immer wussten: "Ich will keine Kinder." Das ist genauso valide wie ein starker Kinderwunsch. Dazwischen liegt eine große Bandbreite an Ambivalenz – dort bewege ich mich selbst. Ich habe den Kinderwunsch nie eindeutig verspürt, aber auch nie klar abgelehnt. Für mich fühlt es sich wie ein "passives" Entscheiden an: Ich warte ab, bis es biologisch vielleicht nicht mehr geht, anstatt aktiv Ja oder Nein zu sagen. Wichtig ist einfach zu respektieren, dass Kinderlosigkeit bewusst gewählt sein kann oder bei manchen einfach so passiert, und sie ist genauso legitim wie Elternschaft.
Du schaust dir auch an, wie sich Freundschaften verändern, wenn Kinder ins Spiel kommen. Meine beste Freundin ist vor Kurzem Mutter geworden, und bisher hat sich bei uns nicht viel verändert. Wie ist es bei dir?
Am Anfang habe ich das ähnlich erlebt wie du – es hat sich gar nicht so viel verändert. Aber inzwischen, da meine engsten Freundinnen fast alle Kinder bekommen haben, merke ich: Die Beziehungen bleiben wichtig, aber sie brauchen neue Formen. Früher haben wir Wochenendtrips gemacht oder stundenlang telefoniert. Das geht mit Kindern nicht mehr so einfach. Also habe ich mir überlegt, wie man unsere Freundschaften in die neuen Lebensrealitäten integrieren kann. Zum Beispiel, indem wir Familienurlaube gemeinsam machen. So bleibe ich Teil ihres Lebens – und bekomme auch die Realität mit, in der sie jetzt leben.
Ein spannender Punkt in deinem Buch ist die Angst vor dem Bereuen – und zwar in beide Richtungen. Manche fürchten, ohne Kinder etwas zu verpassen, andere erleben das Phänomen "regretting motherhood" und wünschen sich, sie hätten keine bekommen.
Frauen, die sich zu der Gruppe "regretting motherhood" zählen, bereuen nicht ihre Kinder, sondern die Mutterschaft als Rolle. Das Thema hat zum ersten Mal große Aufmerksamkeit bekommen, als die israelische Soziologin Orna Donath das in einer Studie untersucht hat. Was ich in meinen Gesprächen mit Müttern beobachtet habe: Frauen, die ihre Mutterschaft bereuen, sind oft auf sich allein gestellt. In gleichberechtigten Partnerschaften, scheint das seltener zu passieren, weil sich die Belastung verteilt. Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse, manche brauchen einfach mehr Zeit für sich – dazu würde ich mich auch zählen. Insgesamt sollten wir akzeptieren, dass nicht jede Frau in der Mutterrolle aufgeht.
Hast du Angst vor Reue?
Für mich war das Thema Reue immer faszinierend, weil ich sehr stark zum Zweifeln neige. Ein Gedanke, den ein Forscher mir mitgegeben hat: Reue ist letztlich kontrafaktisches Denken. Man vergleicht sein jetziges Leben mit einer hypothetischen Alternative – die man aber nie kennen wird. Wir können nicht ins Paralleluniversum reisen und schauen, wie es gewesen wäre, wenn wir uns anders entschieden hätten. Der Gedanke hilft mir, milder zu mir zu sein, wenn ich ins Zweifeln gerate.
Ich habe kürzlich einen spannenden Take einer Influencerin gesehen: Dass Mutterwerden für viele Frauen wie eine Flucht aus der Misogynie erscheint, weil es die gesellschaftlich am höchsten anerkannte Rolle für Frauen ist.
Da bin ich mir nicht sicher. Freundinnen und Bekannte, die inzwischen älter sind und Kinder bekommen haben, erzählen heute – manche nach einer Scheidung –, dass sie extrem wenig Wertschätzung erfahren haben. Sie sagen sogar, dass sie sich selbst kaum noch wertgeschätzt haben. Aber klar: Diese Frauen haben aus meiner Perspektive sehr hohe Erwartungen an sich als Mutter. Vielleicht hat Misogynie auf eine perfide Art und Weise einen Anteil daran.
Also zunächst wird diese Rolle auf ein Podest gestellt – und sobald man drin ist, steht man allein da.
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit der Content Creatorin und Mutter Jo Lücke. Sie hat Politik- und Volkswirtschaftslehre studiert und erst als Mutter gemerkt: In beiden Disziplinen kam Care-Arbeit überhaupt nicht vor. Weder ökonomisch noch politisch wurde darüber gesprochen – als wäre es kein relevanter Faktor in unserer Gesellschaft. Das finde ich so absurd!
Mütter scheinen oft unsichtbar zu werden. Sie verschwinden vom Arbeitsmarkt, kümmern sich nur noch um die Bedürfnisse anderer, stellen ihr eigenes Leben hintenan.
Für Jo war das ein Schock. Sie erzählte, dass sie erst durch eigene Berechnungen realisierte, wie viel ihre unbezahlte Arbeit wert wäre – mehrere tausend Euro pro Monat. Aber gesellschaftlich wird diese Leistung nicht gesehen. Ich glaube, genau das ist ein Grund, warum viele Frauen – mich eingeschlossen – ambivalent zur Mutterschaft stehen.