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Gewalt: Frauen und Mädchen mit Behinderung sind besonders gefährdet

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Frauen mit Behinderungen müssen sich durch ein Leben kämpfen, das voller Barrieren ist.Bild: imago images / Werner Lerooy
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Ungeschützt: Frauen mit Behinderungen sind besonders gewaltgefährdet

Fast jede zweite Frau mit Behinderung erlebt sexualisierte Gewalt – und die meisten Fälle bleiben unsichtbar. Im watson-Interview spricht Martina Puschke vom Weibernetz e.V. über Machtmissbrauch, Ableismus und politische Versäumnisse. Und darüber, welche Maßnahmen längst überfällig sind.
25.11.2025, 20:0325.11.2025, 20:03

Wenn über Gewalt gegen Frauen und Mädchen gesprochen wird – was ohnehin zu selten getan wird, bedenkt man die steigenden Zahlen an häuslicher und sexualisierter Gewalt –, wird eine Gruppe meist doch übersehen. Dabei sind gerade Frauen und Mädchen mit Behinderungen besonders oft von verschiedenen Formen von Gewalt betroffen.

Wieso das so ist, warum Gewalt ihnen gegenüber oft unerkannt bleibt und welche Strukturen Täter begünstigen, haben wir Martina Puschke von Weibernetz e.V. gefragt. Der Verein setzt sich für die politische Interessenvertretung behinderter Frauen ein.

"Viele Täter fühlen sich sicher, weil sie annehmen, dass einer Frau mit Behinderung weniger Glauben geschenkt wird. Leider stimmt das."

Watson: Martina, meine Schwester wurde mit einer Behinderung geboren. Sie kann nicht sprechen, lebt im Wohnheim und ist in ihrem Alltag vollständig auf Unterstützung angewiesen. Ich frage mich oft, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie Gewalt – vielleicht auch sexualisierte Gewalt – erlebt hat oder erleben wird, ohne dass wir davon erfahren.

Martina Puschke: Die Wahrscheinlichkeit ist leider sehr hoch. Vor allem in Wohneinrichtungen, in denen Frauen und Mädchen mit Beeinträchtigungen rund um die Uhr betreut werden, sind die Zahlen erschreckend: Rund 40 Prozent der Bewohnerinnen berichten von sexualisierter Gewalt. Das heißt: Fast jede zweite Frau hat solche Übergriffe erlebt.

Wie sieht es mit anderen Gewaltformen aus?

Ungefähr 90 Prozent der Frauen schildern psychische Gewalt. Das zeigt, wie wenig Schutz diese Orte in der Realität bieten. Und es ist wichtig klarzustellen: Ob jemand in einer eigenen Wohnung lebt oder in einem sogenannten "geschützten Wohnplatz" – Gewalt findet überall statt. Es gibt keinen Ort, an dem Frauen mit Behinderung automatisch sicher sind.

Warum sind gerade Frauen und Mädchen mit Behinderungen so stark gefährdet?

Weil Gewalt immer etwas mit Macht zu tun hat. Frauen mit Behinderungen befinden sich häufig in Situationen, in denen andere Macht über ihren Alltag und ihren Körper haben. Das kann Pflegepersonal sein, aber auch Partner oder Ex-Partner. Wo Abhängigkeit herrscht, entstehen Machtgefälle – und Täter nutzen diese gezielt aus.

Es ist also ein strukturelles Problem?

Genau. Hinzu kommt: Viele Täter fühlen sich sicher, weil sie annehmen, dass einer Frau mit Behinderung weniger Glauben geschenkt wird. Und leider stimmt das. Wir erleben immer wieder, dass Aussagen von Frauen mit kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen nicht ernst genommen werden. Manche Polizist:innen oder Richter:innen unterstellen sogar, sie würden sich "etwas ausdenken" oder "sich wichtig machen wollen".

Sich da zu wehren, scheint fast unmöglich zu sein.

Ja, die meisten lernen nicht, sich wehren zu dürfen. Viele Frauen haben nie gelernt, Grenzen zu setzen. Wenn man als Kind ständig angefasst wird – beim Anziehen, beim Anpassen von Hilfsmitteln, in medizinischen Kontexten –, lernt man nicht automatisch, dass man "Nein" sagen darf. Dieses Grundrecht auf körperliche Selbstbestimmung fehlt oft.

"Die Kombination aus Ableismus und Sexismus ist enorm gefährlich – das nennen wir Mehrfachdiskriminierung."

Welche Formen psychischer Gewalt erleben Frauen mit Behinderungen besonders häufig?

Ein Beispiel ist, dass ständig über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Wenn wir uns vorstellen, jemand würde unseren Alltag bestimmen, ohne uns auch nur zu fragen – das ist enorm belastend. Viele Frauen berichten genau das. Dazu kommt die alltägliche Herabwürdigung: ungefragtes Duzen, das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, bevormundet zu werden. Eine blinde Frau hat uns erzählt, dass sie als Kind angeschrien wurde, wenn sie beim Essen kleckerte – obwohl das ohne Sehsinn völlig normal ist. Diese Art von Druck hinterlässt Spuren.

Das klingt nach tief verankerten gesellschaftlichen Vorurteilen.

Ja, wir haben ein massives Ableismus-Problem – also Diskriminierung aufgrund von Behinderung. Viele denken, Menschen mit Behinderung seien weniger kompetent, weniger intelligent oder weniger wert. Andere romantisieren und fetischisieren sie sogar. Frauen erleben darüber hinaus Sexismus. Die Kombination aus Ableismus und Sexismus ist enorm gefährlich – das nennen wir Mehrfachdiskriminierung.

Du hast gerade von Fetischisierung gesprochen. Wie verbreitet ist das?

Sehr verbreitet. Es gibt Männer, die ganz gezielt amputierte Frauen suchen – sogenannte "Amputee-Lovers". Manche tauchen auf Reha-Messen auf, verfolgen Frauen oder machen ihnen sexuelle Angebote. Das ist hochgefährlich. Frauen mit Behinderungen müssen sich ohnehin durch ein Leben kämpfen, das voller Barrieren ist. Dass sie zusätzlich sexualisiert oder exotisiert werden, ist eine Form von Gewalt, die oft unsichtbar bleibt.

"In Einrichtungen wird kaum über Männlichkeitsbilder, Macht oder Rollenreflexion gesprochen."

Was hilft den Frauen in solchen Situationen?

Empowerment. Peer-Gruppen, Vernetzung, Austausch – online oder offline. Frauen mit Behinderungen unterstützen sich gegenseitig, geben einander Selbstbewusstsein und das Gefühl, dass sie etwas wert sind und Rechte haben. Das ist ein zentraler Baustein, um Gewalt und Diskriminierung entgegenzutreten.

Was müsste politisch passieren, um jene Frauen besser zu schützen?

Deutschland müsste endlich die Gewaltschutzstrategie für Menschen mit Behinderungen umsetzen, zu der es seit der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet ist. Das wurde 2015 angemahnt – passiert ist sehr wenig. So eine Strategie müsste unter anderem Prävention und Empowerment, Gewaltschutz in Schulen, barrierefreie Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungskurse sowie Frauenhäuser und Beratungsstellen beinhalten. Aber bislang gibt es keine flächendeckende Umsetzung.

Stattdessen werden in manchen Bundesländern sogar Gelder gekürzt.

Das ist ein riesiges Problem. Die Istanbul-Konvention legt fest, wie viele Frauenhausplätze ein Land haben muss – Deutschland erfüllt diese Anforderungen nicht einmal ansatzweise. Und das nächste Problem: Nur etwa 10 Prozent der Frauenhäuser sind barrierefrei. Wir haben zwar ein neues Gewalthilfegesetz, das ab 2032 allen Frauen einen Rechtsanspruch auf Beratung und einen Frauenhausplatz garantiert. Doch wenn Kommunen gleichzeitig Mittel streichen, kann dieses Gesetz in der Praxis nicht funktionieren.

Warum gibt es eigentlich so wenige aktuelle Zahlen zu Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen?

Inklusive Studien sind aufwendig und teuer. Sie müssen unterschiedliche Kommunikationsformen berücksichtigen: leichte Sprache, barrierefreie Interviews. Das wird häufig als "zu kostspielig" abgelehnt. Die wichtigste große Studie stammt aus dem Jahr 2012. Eine neue Studie von 2024 zeigt: Die Gewalt, gerade in Wohneinrichtungen, hat nicht abgenommen. Neu ist: Frauen in Werkstätten für behinderte Menschen erleben sogar häufiger sexuelle Belästigung als Frauen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Weiß man, warum die Belästigung in Werkstätten höher ist?

Das wurde nicht eindeutig untersucht. Aber wir sehen: In Einrichtungen wird kaum über Männlichkeitsbilder, Macht oder Rollenreflexion gesprochen. Kritische Männlichkeit ist dort kein Thema – und das trägt zu Übergriffen bei.

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