So wie Köln den Karneval zum "jeck" werden braucht, benötigt München offenbar einen wochenlangen Vollrausch, um mal aus sich herauszukommen. Doch wenn es erst so weit ist, dann ist die Enthemmung total. Diesen Schluss lässt zumindest der neue Podcast "Das Lederhosen Kartell" – ein Insiderbericht – zweier Münchner Journalisten zu.
Ihr Thema: Sex, Drugs und Korruption auf dem Oktoberfest. Es geht um Drogendealer, Bordelle, Fremdenfeindlichkeit und Ränkeschmiede im "Bier-Adel". Um Menschen, die den großen Profit wittern und dabei ihre Moral vollständig in den grölenden Massen verlieren.
Stille Wasser sind tief, heißt es. Dass auch das Oktoberfest diesbezüglich kein kristallklarer, bayerischer See, sondern eher ein schmuddeliger Weiher ist, hat vermutlich jeder geahnt. Die ganzen, schmutzigen Details zu hören, dürfte allerdings wohl selbst Oktoberfest-Hardcore-Fans überraschen.
Wir sprachen darüber mit Alexander Gutsfeld. Der Autor und Wiesn-Rikscha-Fahrer (kein Witz!) ist Host des neuen Podcasts "Das Lederhosen Kartell", für den er in die Abgründe der Wiesn schaute. Er sagt:
Watson: Du beschäftigst dich mit den dunklen Seiten des Oktoberfests. Gleichzeitig bekennst du dich als Fan. Gerade deshalb oder eher trotzdem?
Alexander Gutsfeld: Gerade deshalb. Ich bin in München geboren und aufgewachsen. München ist eine sehr bürgerliche, sehr regulierte Stadt. Aber einmal im Jahr verwandelt sich München in einen Sündenpfuhl. Auf einmal ist es okay, sich ein bisschen daneben zu benehmen – und vielleicht auch mal ein krummes Geschäft zu machen. Und diese moralische Ambivalenz während der Wiesn fasziniert mich. Als Rikschafahrer – und als Journalist.
In diesem Video erfährst du mehr über Sexismus auf dem Oktoberfest:
Was hat dich bei deiner Recherche auf dem Oktoberfest schockiert?
Wie offen mir meine Gäste ihre intimsten Geschichten erzählt haben. Der Bier-Konsum auf der Wiesn enthemmt die Gäste immens, auch gegenüber Journalisten. Da habe ich bei Interview-Anfragen in meiner Rikscha kaum Skepsis wahrgenommen, sondern eher Offenheit und Begeisterung. Viel größer war die Skepsis gegenüber Medienberichterstattung dagegen bei Bierbrau-Familien wie der Familie Schörghuber, einer der reichsten Familien in Deutschland. Die kennen nicht viele, haben aber ziemlich viel Macht in dieser Stadt. Und sie halten sich in der Öffentlichkeit sehr zurück.
Viele nehmen die Wiesn als zünftigen Spaß wahr. Hört man die Geschichten über Drogendealer, Sextourismus und Geschäftsgebaren der Wirte, ist das ein knallhartes Pflaster. Ist das Image "der Gemütlichkeit" also fake?
Die Wiesn ist deswegen so faszinierend, weil sie beides ist: Tradition und Mega-Event, ein gemütliches Volksfest und die größte Party der Welt. Je nachdem, was man sucht und in welches Zelt man geht. Die Wiesn ist ein Fest, das auch von Familien besucht wird, mit traditionellen Fahrgeschäften. Aber das Oktoberfest hat eben auch jede Menge dunkle Ecken. Und gerade dort treibe ich mich als Rikschafahrer oft rum. Denn als Rikschafahrer bin ich vor allem nachts unterwegs. Und da treffe ich dann auf besoffene Ehemänner, die ins Bordell wollen und Wiesn-Gäste, die nach Koks suchen. Und diese dunklen Ecken haben wir im Podcast ein bisschen ausgeleuchtet.
Du hast selbst Besucher:innen über den Tisch gezogen als Rikscha-Fahrer. Kein Mitleid gehabt?
Rikscha-Fahren auf der Wiesn ist größtenteils Anarchie. Es gibt keine festen Preise, sondern ich selbst sage die Preise an, je nachdem wie reich oder besoffen der jeweilige Gast eben ausschaut. Da verlangt man schon mal ein bisschen mehr, wenn der Gast Designer-Tracht trägt oder ins P1 will. In München ist bekannt, dass Rikscha fahren auf der Wiesn nicht gerade das preiswerteste Vergnügen ist, trotzdem haben wir viele Fans. Denn wir Rikschafahrer sind sowas wie das einzige Fahrgeschäft, das außerhalb der Theresienwiese fährt. Und unsere Preise sind, sagen wir mal, flexibel...
Eine Masse Menschen ist wochenlang im Wiesn-Rausch und schwankt dabei am Abgrund des züchtigen Benehmens. Ist Bier Schuld an diesem kollektiven Ausnahmezustand? Oder Bayern? Oder das Geld?
Ich glaube, es gibt viele Gründe, warum sich München für zweieinhalb Wochen im Rausch befindet. Der exzessive Bier-Konsum, aber auch die Menschenmassen, die Geschäftemacherei, die laute Musik. Auf der Wiesn ist für zweieinhalb Wochen okay, was sonst verboten ist. Die ausgelassene Stimmung in der Stadt wirkt ansteckend und führt dazu, dass man sich auf der Wiesn anders verhält als im Alltag. Maßloser. Und dabei werden manchmal erhebliche moralische und auch juristische Grenzen überschritten. Das gilt für die Wiesn-Besucher, aber auch die Menschen, die auf der Wiesn arbeiten: Die Wiesnwirte, die Kellner und manchmal auch für mich selbst als Rikschafahrer.
Wenn du die Macht hättest: Was würdest du auf dem Oktoberfest sofort unterbinden?
Ich würde durchsetzen, dass es weniger reservierungspflichtige Tische gibt. Als Besucher ist es extrem nervig, wenn man nach ein paar Stunden aus dem Zelt geworfen wird, weil andere den Tisch reserviert haben. Und ich würde die Preise regulieren. Das Oktoberfest ist so teuer geworden, dass sich das Fest seit ein paar Jahren von einem Volksfest langsam zu einem elitären Firmenevent entwickelt, das sich nicht mehr jeder Münchner leisten kann. Der Volksfest-Charakter muss aber aus meiner Sicht unbedingt erhalten bleiben, das macht die Wiesn aus.
Der Mythos Wiesn – wird er durch euren Podcast eher entzaubert oder verfestigt?
Ich glaube, wir machen beides. Wir sind selbst von der Wiesn fasziniert und versuchen im Podcast, dem Mythos Oktoberfest auf die Spur zu kommen. Der Schickeria im Käferzelt und den mächtigen Wiesnwirten. Manchmal führt das im Podcast dazu, dass wir den Mythos noch weiter füttern. Und manchmal, dass wir eine andere Erzählung hinzufügen. Zum Beispiel, wenn ich über Tracht auf der Wiesn rede. Die ist unter Wiesn-Besuchern nämlich erst seit 20 Jahren verbreitet.
Hast du als Profi einen praktischen Tipp für jede:n Normalo-Wiesnbesucher:in?
Wir haben für den Podcast mit dem Wiesnschurli geredet, einem Österreicher, der seit 40 Jahren jeden Tag auf die Wiesn geht. Und der hat einen eigenen Wiesn-Survival-Guide erstellt, mit ziemlich wertvollen Tipps. Die drehen sich fast alle ums Trinken und wie man vermeidet, als Bierleiche auf dem Kotzhügel zu landen. Sein erster Tipp war: Kein Schnaps auf der Wiesn. Tipp zwei: Immer genug essen, am besten fettiges Essen. Drittens: Immer wieder Trinkpausen einlegen und vielleicht auch mal ein Wasser zwischendurch trinken. Sonst wird die Wiesn hart, gerade als Neuling.