Auch wenn die Zeichen um Corona nun besser stehen; diese Zeit wird ihre Spuren bei uns hinterlassen. (Symbolbild)bild: istockphoto / matthias lindner
Interview
29.07.2021, 14:0131.07.2021, 16:18
Inzwischen ist es über anderthalb Jahre her, dass ein globaler Ausbruch der Covid-19-Pandemie erfolgt ist. Aktuell sehen sich die Menschen in Deutschland mit steigenden Inzidenzzahlen, dem Herannahen der Delta-Variante und Impfzweifeln konfrontiert. Um Fragen bezüglich der psychischen Auswirkungen auf den Menschen in dieser Zeit großer Unsicherheit zu beantworten, hat watson die Meinung eines psychologischen Experten herangezogen.
Michael Musalek ist Psychotherapeut und Facharzt für Psychiatrie und Neurologie. Seit 2015 ist er zudem Vorstand des Instituts für Sozialästhetik und Psychische Gesundheit der Sigmund Freud Universität Wien und Berlin und untersuchte die psychosozialen Folgen der Corona-Krise. Im Interview mit watson äußert er sich zu seiner aktuellen Studie und zu den Auswirkungen der Corona- und Impfsituation auf den Menschen aus psychologischer Sicht.
Michael Musalek ist ein österreichischer Psychiater und Psychotherapeut. 1955 wurde er in Wien geboren. null / Inge Prader
watson: Herr Musalek, wie lautet das Thema Ihrer neuesten Studie?
Michael Musalek: Thema der Studie ist, was die Corona-Krise für psychosoziale Auswirkungen auf den Menschen hat. Es handelt sich dabei um eine repräsentative Umfrage für Österreich. Gefragt wurde danach, wie viele Menschen in Österreich psychische und wie viel wirtschaftliche Probleme haben und welche psychischen Reaktionen auf die Krise festzustellen sind. Wir sprechen hier von Angstreaktionen, Verstimmungen oder Reizbarkeiten. Das war der erste Bereich der Studie, der zweite Bereich war dieser, dass wir uns auch mit der Impfmotivation beschäftigt haben.
"Gefragt wurde danach, welche psychischen Reaktionen auf die Krise festzustellen sind. Wir sprechen hier von Angstreaktionen, Verstimmungen und Reizbarkeiten."
Zu welchen Zeitpunkten wurden die jeweiligen Studien unternommen?
Die Studie hatte zwei Untersuchungszeitpunkte. Der erste war im Vorjahr im April und Mai, also auf dem ersten Höhepunkt der Welle und der entsprechenden Maßnahmen. Und dann kam eine zweite Studie hinzu, die in diesem Jahr im Februar und März gewesen ist. Da haben wir uns dann auch mit der Bereitschaft zur Corona-Impfung beschäftigt. Wir haben hierzu eine Pressekonferenz gemacht, welche man sich online ansehen kann.
Studie zum Erleben und Verhalten während der Corona-Krise
Online-Befragung der österreichischen Bevölkerung
Über 2300 Menschen wurden im Zeitraum April bis Mai 2020 und Februar bis März 2021 zu ihrem Erleben und Verhalten während der Pandemie befragt. Die Untersuchung der Sigmund Freud Universität wurde durch die Stadt Wien gefördert.
Was halten Sie davon, dass das Impfen im Moment so beworben wird?
Also, an dieser Stelle müssen wir zwei Sachen unterscheiden. Und zwar zum einen, ob wir wollen, dass es eine Impfpflicht geben sollte und zum anderen, wie wir Menschen motivieren können, sich impfen zu lassen. Das mit der Impfpflicht ist in erster Linie eine politische Frage, die lässt sich nicht wirklich medizinisch klären. Bis auf einen Punkt: Im Bereich der Medizin handelt es sich hier um ein Gefahrenpotential, das vom Personal in den Krankenhäusern ausgeht und man hat gegenüber den Patienten eine besondere medizinische Verantwortung. Die Impfung hat an dieser Stelle also einen anderen Stellenwert als für die Menschen der Gesamtbevölkerung.
Was bedeutet das im Umkehrschluss?
Ich persönlich bin für eine Impfpflicht des Pflege-Personals, die in den Krankenhäusern regelmäßigen Kontakt mit den Patienten haben. Denn hier stellt es einfach eine Gefahrenminimierung dar. Ansonsten bin ich ein liberaler Mensch und allgemein nicht für die Impfpflicht, sondern mehr dafür, zu motivieren.
Wie kann eine solche Motivation aussehen?
Nun, wir wissen aus der Motivationsforschung, dass es zwei Möglichkeiten des Motivierens gibt, einmal durch positive Anreize und zum anderen durch negative Maßnahmen. Hier ist belegt, dass das, was die Forschung antreibt, immer das positive Motivieren ist. Zudem ist diese Variante nachhaltiger. Deshalb sollte man alle möglichen positiven Maßnahmen ergreifen.
"Wir haben hier tatsächlich eine eigenartige Situation und zwar, dass die Impfbereitschaft der jungen Männer, wesentlich höher ist als die von jungen Frauen."
Was glauben Sie, woran es liegt, dass manche Menschen sich nicht impfen lassen wollen?
Es gibt sehr große Unterschiede, warum Menschen sich nicht impfen lassen. Es gibt die Menschen, die es aus weltanschaulichen Gründen ablehnen. Diese Gruppe ist am schwersten zu erreichen, jedoch auch nur recht klein. Die viel größere Gruppe, sind Menschen, die einfach Ängste entwickeln. Und diese können nachvollziehbar und real sein; das betrifft zum Beispiel mögliche Nebenwirkungen der Impfung oder dass man glaubt, dass keine ausreichenden Fakten dazu existieren. Dann gibt es aber auch noch jene, deren Gründe schwer nachvollziehbar sind. Diese sind deshalb aber nicht weniger ernst zu nehmen.
Weiß man denn, wer eher bereit ist, sich impfen zu lassen und woran das liegen kann?
Wir haben hier tatsächlich eine eigenartige Situation, und zwar, dass die Impfbereitschaft der jungen Männer, wesentlich höher ist als die von jungen Frauen. Dabei stehen Frauen medizinischen Maßnahmen insgesamt wesentlich positiver gegenüber. Frauen sind eher bereit, sich untersuchen zu lassen, etwas für ihre Gesundheit zu tun und sich auch in Behandlung zu begeben. Im Fall von Corona lassen sich eher Männer impfen. Das liegt daran, dass ja weit verbreitet ist, dass bei Impfungen die Gefahr besteht, unfruchtbar zu werden. Hier muss man dem Menschen eine Chance geben, die Realität zu akzeptieren, dass es keinen Zusammenhang zwischen Impfung und Unfruchtbarkeit gibt.
Wie kann das genau aussehen?
Es geht um umfassende Maßnahmen. Man muss sich einfach Zeit nehmen und gruppenspezifisch motivieren. Es gibt Menschen, die sprechen von einer genetischen Veränderung durch die neuen Impfstoffe. Obgleich Fakt ist, dass eine RNA eine DNA nicht verändern kann. Das muss man den Menschen erklären, an Beispielen nahe bringen und verständlich machen – denn viele haben bisher nur gehört: da wird etwas genetisch gemacht und dann packt man natürlich seine eigene Fantasie dazu. Also man muss hier sehr punktgenau aufklären.
Hat man mit einer der Studien hier schon Erkenntnisse zeigen können?
In Österreich, das konnten wir durch die Studie ermitteln, dass 50 Prozent bereit sind, sich impfen lassen und etwa 35 Prozent der Menschen unsicher sind und auf die Frage, ob sie sich dennoch impfen lassen wollen, zu jeweils etwas mehr als 10 Prozent mit ja, nein oder vielleicht antworten, rund 10 - 15 Prozent sind überzeugte Impfgegner. Bei den noch Unsicheren müssen wir ansetzen, denn wenn wir eine Impfrate von rund 80 Prozent erreichen, dann werden wir dieses Problem in den Griff bekommen. Und wenn wir das nicht schaffen, wird im Herbst etwas ganz Ähnliches passieren, wie voriges Jahr. Und alle werden sagen: 'Das haben wir jetzt aber nicht erwartet.'
Die Impfmotivation wird aktuell um ein weiteres erschwert. Jetzt hört man von Fällen, bei welchen eine vollständige Impfung die Delta-Variante nicht abhalten konnte.
Also auch hier müssen wir zwei Sachen unterscheiden, das eine ist der Anspruch der 100-Prozent-Garantie. Im technischen Bereich kann man diesen Anspruch durchaus vertreten. In der Natur ist er absurd. Da gibt es einfach keine 100 Prozent! Und natürlich ist es keine Frage, wenn wir jetzt in Millionengröße sind, dass ein Prozent gegenüber 99 Prozent sehr viel ist. Das sind dann also relativ viele Menschen, die sich trotzdem an Corona anstecken. Das heißt aber nicht, dass das Impfen insgesamt nichts bringt. Erkrankung ganz im Gegenteil Impfung schützt in einem extrem hohen Maße vor Erkrankung und in nahezu 100 Prozent vor sehr schwerer Erkrankung - das muss kommuniziert werden.
"Beim Impfen herrscht der Anspruch einer 100 Prozent-Garantie. In der Technik ist das möglich, aber in der Natur absurd!"
Was kann denn mit einer Impfung garantiert werden?
Wir können sagen, dass es bei einer vollständigen Impfung kaum schwere Verläufe gibt, insbesondere praktisch keine, die dann auf der Intensivstation behandelt werden müssen. Auch bei der Delta-Variante gibt es eine extreme Risikosenkung. Das belegen bereits entsprechende Daten. Also kann man sagen, dass die Impfungen sehr wohl etwas bringen, aber natürlich nie 100 Prozent. Und das bedeutet eben auch, dass wir auf bestimmte Maßnahmen noch nicht verzichten können.
Was bedeutet das für die Menschen in der Frage nach "Impfen oder nicht-Impfen"?
Eine Impfung heißt nicht, dass man damit vor jedem schweren Schlag geschützt ist. Sondern die Chance, zu erkranken und schlimm zu erkranken, ist wesentlich geringer. Und das muss man den Menschen so erklären! Denn sonst passiert eben genau das: die Menschen kommen und sagen, wieso soll ich mich impfen lassen. Da kann ich ja genauso krank werden, als wenn ich mich nicht impfen lasse. Jedoch ist es ein gravierender Unterschied, ob die Chance zu erkranken, je nachdem, wie ich mich verhalte, bei 50, 60 oder 70 Prozent liegt oder eben bei 0,5 Prozent.
Sie sagen also, dass das Mittel gegen die Verunsicherung eine gezielte Aufklärung der Gruppen in der Gesellschaft ist?
Genau, diese Informationen müsste man den Menschen auch so weitergeben. Hier kommen wir auch zum zweiten Bereich der Motivation, nämlich zur Argumentation. Das ist auch etwas, was hier in Österreich verbessert werden kann. Es wird noch unzureichend betont, dass man mit einer Impfung eben auch andere schützt.
Also sollte hier an den Gemeinschaftsgedanken appelliert werden?
Natürlich. Man macht das nicht nur für sich selbst, sondern eben auch zu einem erheblichen Grad für all die Menschen, die mir lieb und teuer sind. Das ist eine Frage der Verantwortung, die ich den Menschen gegenüber, die mit mir Zeit verbringen, auch trage. Ich denke, auch das muss thematisiert werden, eben auch im umgekehrten Fall. Nämlich, wenn man es nicht macht, erhöht man nicht nur das eigene Risiko, sondern auch das aller anderen.
Glauben Sie, dass die Zeit, in der wir uns gerade bewegen, primär einen Zustand der Überforderung mit sich bringt, oder dass sie auch eine Bewusstseinserweiterung im positiven Sinne bedeutet?
Also eine Krise ist immer etwas Desaströses – per definitionem! Denn wäre es nicht desaströs, würde es uns nicht so sehr belasten und dann würden wir auch nicht von Krise sprechen. Das kann man auch nicht wegreden, sondern es ist tatsächlich etwas, das uns fordert und auch überfordert. Das sehen wir auch sehr deutlich an der erhöhten Reizbarkeit, an der Gereiztheit und der gestiegenen Verstimmtheit.
Inwiefern?
Man reagiert unter diesen Umständen auf Reize sensibler oder manchmal ist schon gar kein Reizempfinden mehr da. Das ist ein Zeichen der Überforderung. Und umso mehr ich überfordert bin, desto eher neige ich auch zu dieser erhöhten Reizbarkeit. Mit der Studie aus dem zweiten Zeitraum konnten wir feststellen, dass bei rund der Hälfte der Österreicherinnen und Österreicher tatsächlich eine erhöhte Reizbarkeit vorliegt. Das sind nun Menschen, die zwar noch keine psychische Erkrankung haben, aber bereits Auswirkungen der Krisenumstände im Verhalten zeigen, indem sie schneller gereizt reagieren.
"Das Schöne am Menschsein ist doch, dass nicht nur andere die Weichen stellen, sondern dass man es auch selbst machen kann."
Und wie können die positiven Auswirkungen dieser Krise aussehen?
Eine Krise bedeutet gleichzeitig zu den negativen Faktoren immer auch eine enorme Chance! Es ist schon deshalb eine Chance, weil wir ja als gewohnheitsliebende Lebewesen meist auf einer bestimmten Schiene durch das Leben fahren. Diese Schiene haben wir gewählt oder nicht gewählt, in jedem Fall gestaltet diese Fahrt unseren Alltag. Und eine Krise wirft uns dann im wahrsten Sinne des Wortes aus der Bahn, was wiederum die Möglichkeit einer Neuadjustierung für uns bedeutet.
Wie können wir diesen Umstand nutzen?
Das Schöne am Menschsein ist doch, dass nicht nur die anderen die Weichen stellen, so, wie das beim Zug ist, sondern dass man es eben auch selbst machen kann. Wenn man das versteht, kann man aus einer Krise eben entsprechend profitieren und sich auch weiterentwickeln. Diese Chance muss man allerdings aktiv ergreifen.
Wenn wir einmal etwas philosophisch in die Zukunft schauen, was werden wir in zwei Jahren aus dieser Krise mitgenommen haben?
Wir werden in den nächsten zwei Jahren auf jeden Fall weiterhin mit der Pandemiedebatte zu tun haben. Wir werden uns darauf einstellen müssen, dass uns virale Geschehen begleiten werden und auch, dass jede Pandemie starke soziale Auswirkungen haben wird. Wir können hier auch von einer psychosozialen Pandemie sprechen. Wenn ich auf jemanden treffe, der sofort gereizt ist und böse wird, ist die Chance, dass wir selbst auch böse reagieren, relativ groß. Das führt genauso zur Ansteckung, wie ein Virus. Und auch hier gilt: beim einen hat es mehr Auswirkungen und beim anderen weniger.
Wir sprechen also von einer Pandemie im doppeldeutigen Sinne?
So ist es. Die psychosoziale Pandemie ist eine, die jedoch erst später eintritt, weil die Menschen sich während der Pandemie sich dieser Probleme noch nicht richtig bewusst sind und wir müssen davon ausgehen, dass in den nächsten Jahren massive psychische Probleme zunehmen werden. Denn es gibt ja durchaus negative wirtschaftliche Umstände, die sich nicht einfach so beheben lassen. Auch Probleme, die es zum Beispiel vor der Pandemie schon gab, sind in der Pandemie brisant geworden. Hier sprechen wir in etwa von Trennungen, denn Umstände, wie diese in der Pandemie, sind soziale Brandbeschleuniger. Und mit diesen Bränden werden wir uns mindestens die nächsten drei bis fünf Jahre zu beschäftigen haben.
"Wir brauchen das Schöne. Es ist uns eine riesige Kraftquelle."
Und was kann die positive Seite sein?
Eine positive Seite, die sich aus meiner Sicht durch die Pandemie ergibt, ist das Erkennen unserer Fähigkeit, unser Leben neu zu gestalten. Wir können die Bereiche unseres Lebens überprüfen: möchte ich das weiterhin so oder möchte ich das nicht und es ermöglicht uns damit, etwas Neues zu schaffen. Außerdem zeigt es uns, wie wichtig das Schöne in unserem Leben ist und dass es uns die Kraft spendet, die wir brauchen, um auch schwierige Phasen zu bestehen.
Hat das Schöne in einer solchen Phase denn noch Bestand?
Das Schöne ist nicht abgeschafft, nur weil es eine grausige Zeit ist. Aber das Schöne muss gesehen werden. Und davon könnten wir profitieren. Wir brauchen das Schöne, um etwas Gutes leisten zu können – das Schöne muss wieder mehr in den Mittelpunkt gerückt werden. Es ist uns eine riesige Kraftquelle.
Können wir insgesamt eine positive Erkenntnis mitnehmen?
Das Wesentlichste: Eine Krise kann der Einzelne nicht bewältigen. Eine Krise kann nur in der Gemeinschaft bewältigt werden. Und wir haben doch, wenn wir die letzten 20 Jahre betrachten, ein ziemliches Auseinanderdriften der Gesellschaft und der Menschen zu beobachten. Und die Pandemie-Situation gibt uns nun die Möglichkeit, zu einem neuen Gemeinschaftssinn; zu einer neuen Solidarität zu kommen. Wir können dem Wort Solidarität den alten Beigeschmack nehmen und es neu definieren – im positivsten Sinne könnten wir diese Lage zum „besser werden“ nutzen.