Männer fahren schnelle Autos und trinken gerne Alkohol – dieses klassische Rollenbild des Mannes gibt es nicht erst seit den James-Bond-Filmen. Dass dieses Verhalten schädlich sein kann, zeigt sich im Geschlechtervergleich: Männer sterben durchschnittlich fünf Jahre früher als Frauen.
Das ist einer der Gründe, warum die "International Men's Health Week" ins Leben gerufen wurde, die seit Montag stattfindet. Die Initiative soll auf die problematischen Verhaltensweisen von Männern im Umgang mit ihrer eigenen psychischen und physischen Gesundheit aufmerksam machen.
Matthias Stiehler ist psychologischer Berater und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema. Angefangen hat der studierte Theologe als evangelischer Pfarrer. Mittlerweile sitzt er im Vorstand der Stiftung Männergesundheit, die offiziell an der "Men’s Health Week 2021" teilnimmt. Außerdem ist der 60-Jährige Gründungsmitglied des Bundesforums Männer und Mitherausgeber des Männergesundheitsberichts.
Mit ihm hat watson über ungesunden Lebensstil, gesellschaftliche Erwartungen an Männer und ein kompliziertes Verhältnis zum männlichen Körper gesprochen. Stiehler erklärt den sozialen Druck, den Männer spüren, und was es bedeutet, als Mann stark zu sein.
watson: In der Medizin galt jahrzehntelang der männliche Körper als Standard, sowohl Therapien als auch Medikamente sind auf ihn ausgerichtet. Wieso braucht es denn überhaupt eine Gesundheitswoche für Männer?
Matthias Stiehler: Männer stehen bei der geschlechtsspezifischen Medizin nicht so stark im Fokus wie Frauen. Es stimmt, dass in der Vergangenheit eher der männliche Körper als Norm in der Medizin galt: So wurden die meisten Medikamentenstudien nur mit männlichen Probanden durchgeführt oder Therapien an sie angepasst. Dafür wird die Medizin auch sehr offen kritisiert.
Das klingt ja eher so, als hätten Männer in der Medizin einen Vorsprung?
Nicht unbedingt. Genauso wie Frauen brauchen auch Männer eine spezifische Wahrnehmung, die ist allerdings in der Medizin noch kaum entwickelt. Eine Bewegung, die Nachteile für Frauen im Gesundheitswesen thematisiert, gibt es 30 Jahre länger als entsprechende Forderungen für Männer. Dadurch klingt eine Gesundheitswoche für Männer noch sehr ungewohnt.
Was haben die Frauen- und die Männergesundheitsbewegung gemeinsam?
Wir sind uns mit der Frauenbewegung einig: Es braucht geschlechtsspezifisches Denken im Gesundheitswesen. Gerade wenn das Geschlecht nicht speziell mitgedacht wird, entstehen schnell Nachteile, entweder für Männer oder für Frauen – oder beide.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Denken Sie an die Kurse der Krankenkassen, die eher von Frauen wahrgenommen werden. Da heißt es oft: Männer wollen das nicht. Eigentlich hängt das damit zusammen, dass sich diese Kurse, wie zum Beispiel Yoga oder Stressabbau, eher an Frauen richten. Die Bedarfe der Männer, die diese dann auch ansprechen und erreichen, geraten aus dem Blick. Dann wird schnell die Schlussfolgerung getroffen, dass Männer nicht erreichbar seien.
Wenn es um Männer-Leiden geht, kommt oft die Kritik, dass man sich zuerst um die Probleme der Frauen kümmern sollte. Wie reagieren Sie auf sowas?
Ich höre das permanent. Es ist jedoch wichtig, nicht in eine Konkurrenz zu geraten. So, wie es Probleme in der Medizin gibt, bei denen Frauen zu wenig in ihrer Spezifik berücksichtigt werden, so gilt das auch für Männer.
Männer leben durchschnittlich fünf Jahre kürzer als Frauen. Woran liegt das?
Die erste Erklärung ist oft eine biologische. Das ist mittlerweile durch die Forschung widerlegt. Man geht davon aus, dass maximal ein Jahr Unterschied biologisch bedingt ist.
Und die anderen vier Jahre, die Männer weniger leben? Wie lassen sich die erklären?
Die weiteren Jahre müssen andere Ursachen, wie das Verhalten oder den Lebensstil, haben. Männer sterben auch häufiger an chronischen Erkrankungen wie Diabetes. Auch die gesellschaftliche Stellung der Männer spielt eine Rolle.
Zigarren, Whiskey und Grillfleisch – das sind alles ungesunde männliche Stereotype. Halten sich Männer selbst von einem gesünderen Lebensstil ab?
Oft wird gesagt, Männer sollen mehr Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Aber wenn sich eine ganze gesellschaftliche Gruppe in einer bestimmten Weise verhält, dann ist hier mehr im Spiel als nur individuelle Verantwortung. Es geht um die Stellung in der Gesellschaft, auch die Haltung der Gesellschaft gegenüber den Männern. Dabei ist auch wichtig, dass Männer nicht als homogene Gruppe verstanden werden. Es gibt beispielsweise deutliche soziale Unterschiede innerhalb der männlichen Bevölkerung, die sich auch auf die Gesundheit auswirken. Wir müssen also Männergesundheit komplex betrachten.
Aber haben Männer nicht auch ein schlechteres Gesundheitsbewusstsein?
Ich denke nicht, dass Männer insgesamt ein schlechtes Gesundheitsbewusstsein haben. Zwar haben Männer zu ihrem Körper eher ein instrumentelles Verhältnis, aber das muss dem Gesundheitsverhalten nicht grundsätzlich entgegenstehen. Sie möchten, dass ihr Körper funktioniert. Aber es stimmt schon, dass sie mit diesem Blick eher an ihre Grenzen gehen.
Inwieweit spielt auch die gesellschaftliche Erwartung an Männer eine Rolle bei der geringeren Lebenserwartung?
Es sind nicht nur die Männer selbst, die von sich erwarten, dass sie funktionieren und die an sie gestellten Erwartungen erfüllen – auch die Gesellschaft erwartet das. Daher wird davon ausgegangen, dass Männer weniger hilfsbedürftig sind. Wenn es ihnen nicht gut geht, sollen sie sich "mal zusammenreißen". Ich sage da immer gerne: Männer werden auch dann noch als handlungsmächtig gesehen, wenn sie schon auf dem Zahnfleisch kriechen.
Worin zeigt sich das?
Bei einem Experiment der Klinik Hamburg Eppendorf wurden weibliche und männliche Schauspieler mit gespielten depressiven Verstimmungen zu verschiedenen Ärzten geschickt. Dabei hat sich gezeigt: Bei gleicher Symptomatik wurde es bei Frauen eher akzeptiert, dass sie sich in einer depressiven Phase befinden und Behandlungsbedarf besteht. Bei Männern wurde öfter gesagt: "Reißen Sie sich zusammen."
Männer gehen seltener zum Arzt, wenn sie ein gesundheitliches Problem haben. Warum ist das so?
Ich denke, auch hier geht es vor allem ums Funktionieren – solange das noch geht, gibt es keinen Arztbesuch. Hinzu kommt aber auch die Struktur unseres Gesundheitssystems: Für Frauen ist es selbstverständlich, mindestens einmal im Jahr zum Frauenarzt zu gehen – für Männer gibt es nichts Vergleichbares. Ab 35 Jahren gehen Routineuntersuchungen beim Allgemeinmediziner los, aber da waren viele von ihnen seit 20 Jahren in keiner Praxis mehr. Sie dann für einen regelmäßigen Besuch zu gewinnen, ist schwierig.
Auch bei psychischen Problemen suchen sich Männer seltener Unterstützung. Hängt das mit dem alten Klischee zusammen, dass Männer keine Gefühle zeigen dürfen?
Es stimmt, dass sie unangenehme Gefühle seltener nach außen tragen. Aber Männer haben genauso viele Gefühle wie Frauen. Dennoch: Wenn sie psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, muss schon ein wirklich erheblicher Leidensdruck vorhanden sein. Frauengesundheit spricht oft kritisch von einer "Psychologisierung" der Krankheit, also körperlichen Krankheiten werden psychische Ursachen zugeschrieben. Bei Männern geht es eher um das Gegenteil: eine "Somatisierung". Ein Mann ist erst dann krank, wenn er körperliche Symptome hat. Da ist es oft schon zu spät.
Inwieweit tragen Männer hierfür die Verantwortung?
Auch für Männer gilt – selbst wenn die verbreitete Meinung oftmals eine andere ist: Es gibt niemanden, der sich wissentlich selbst schädigt. Für krankheitsverursachendes Verhalten gibt es immer Gründe, die vom Blick der Gesundheitspsychologie ein Bewältigungsverhalten darstellen. Von außen ist das nicht immer sichtbar. Wenn jemand beispielsweise raucht, dann tut er das nicht, um sich zu schädigen. Vielmehr muss gefragt werden, welcher Stress, welche Belastungssituation dadurch bewältigt werden soll. Das heißt, es muss immer auch nach tieferliegenden Ursachen gefragt werden. Und genau das wird bei Männern in unserer Gesellschaft kaum getan.
Männer nehmen sich dreimal häufiger das Leben als Frauen. Wie kann man Männern frühzeitiger helfen?
Auch hier muss nach Gründen gefragt werden. Offensichtlich haben Männer deutlich häufiger als Frauen das Empfinden, mit ihrer Not nirgends hingehen und sich helfen lassen zu können. Das hat auch viel mit der Sozialisation zu tun. Daher sehe ich über die konkreten Einzelfälle hinaus als wesentliche Prävention gegenüber späteren Suiziden einen empathischen Vater, der offen für die Nöte seiner Söhne ist. Wichtig ist also eine aktive Vaterschaft in der Familie. Hierzu gehört auch, dass Väter sich selbst als offen und auch verletzbar zeigen.
Wie können wir schon Jungen und Jugendlichen beibringen, stärker auf sich zu achten?
Jungs müssen mit ihren Nöten auch gehört werden. Wenn wir bei unserer Arbeit Männer über ihre Probleme in der Kindheit fragen, merken wir, dass diese oft negativ problematisiert wurden. Denken Sie an ADHS – die Leiden dieser Kinder werden oft als Störung empfunden, aber es wird nicht gefragt, ob es vielleicht eine Aufmerksamkeitsstörung der Eltern gegenüber der Jungen gibt.
Und in einem gesellschaftlichen Kontext?
Gesellschaftlich müssen wir uns fragen, wie mit Männern umgegangen wird, die auch mal schwach sind. Natürlich gibt es durchaus "Jammerlappen", die eine zur Schau getragene, kompensatorische Schwäche zeigen. Aber öfter noch gibt es unter Männern eine falsche Stärke, die die eigenen Nöte verdeckt – die Balance ist wichtig. Ich sage immer: Ein Mann ist dann stark, wenn auch mal schwach sein kann. Es gibt niemanden, der ohne Hilfe klarkommen kann – das muss man für sich annehmen.
Wann wird es denn besonders riskant oder gar gefährlich für Männer, keine Schwäche zeigen zu können?
Denken Sie an die Gewaltschutzhäuser für Frauen, die natürlich wichtig sind. Es gibt aber solche geschützten Orte kaum für Männer. Es gibt erste Männerschutzwohnungen, beispielsweise in Sachsen. Aber es ist immer noch für viele Männer schwierig einen geschützten Raum zu finden, wenn sie von Gewalt bedroht sind – sei das von anderen Männern oder in der Partnerschaft.
Knapp ein Viertel der Opfer häuslicher Gewalt sind Männer, wieso wird das nicht thematisiert?
Es gibt diese Vorstellungen der häuslichen Gewalt gegen Männer einfach nicht. Wenn die Polizei kommt, werden dann oft die Männer mitgenommen.
All diese Problematiken haben Sie dazu motiviert, für Männergesundheitsberichte einzutreten und Vorstand der Stiftung Männergesundheit zu werden. Haben persönliche Erfahrungen Sie dazu inspiriert?
Natürlich, ich bin ja ein Mann. Ich habe vieles, wovon ich rede, erlebt oder zumindest eine Sensibilität dafür. Ich bin dreifacher Vater, vierfacher Großvater und erlebe, wie sehr auch die Enkel auf den Großvater als männliche Bezugsperson angewiesen sind.
Sie selbst sind studierter Theologe und waren vor langer Zeit Pfarrer. Kamen damals schon Männer zu Ihnen, die Unterstützung gesucht haben?
Ja. Das war mitten in der Wendezeit, da ist viel zusammengebrochen. Dieser gesellschaftliche Bruch betraf zumeist die Arbeit und das war für Männer, die ihren Beruf oft als identitätsstiftend erleben, kränkend.
Mittlerweile beraten Sie selbst Männer zu Gesundheitsthemen. Mit welchen Problemen wenden sich Männer am häufigsten an Sie?
Ich arbeite im Gesundheitsamt in der AIDS-Beratung. Da geht es erstmal um die Untersuchung und die Angst vor dem Test. In dem Gespräch können sich dann Themen entwickeln, die darüber hinausgehen. Bei den Männergruppen, die ich leite, geht es um Krisensituationen im Leben. Oft hängt das mit der Partnerschaft zusammen. In diesen Situationen merken Männer: Es geht nicht weiter, da muss sich was ändern.
Die Stiftung Männergesundheit nimmt an der "Männlichen Gesundheitswoche" teil. Was sind die Ziele dieser Initiative?
Das zentrale Thema ist immer, die Gesellschaft für das Thema Männergesundheit zu sensibilisieren. Wir möchten in diesem Jahr unter anderem Männer und Depressionen in den Fokus stellen und planen dazu, eine Website für Männerdepressionen online zu stellen. Leider verzögert sich dieses Projekt aus technischen Gründen etwas.
Sie hatten die Idee für den "Tag der ungleichen Lebenserwartung". Worum geht es dabei?
Die Lebenserwartung bei Männern liegt derzeit bei 78 Jahren – Frauen hingegen werden 83 Jahre alt. Ich habe überlegt, wie man das anschaulicher machen kann: Wenn man die Lebenserwartung von Frauen auf 365 Tage umrechnet, wie schneiden die Männer ab? Da ergibt sich: Nikolaus wird noch mit Männern gefeiert, aber Weihnachten nicht mehr. Am 10. Dezember wäre dann Schluss. Wir möchten mit diesem Tag Männer auffordern, für sich selbst mehr Sorge zu tragen. Aber wir wollen auch die Gesellschaft dazu aufrufen, die Probleme der Männer mehr in den Blick zu nehmen.