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Interview

ADHS-Betroffene Stina Ziesmer über Symptome, Vorurteile, Diagnose

Stina ADHS
Stina Ziesemer hat genug von Vorurteilen gegenüber ADHS-Diagnosen.Bild: privat
Interview

ADHS-Betroffene über die "Modediagnose" und "Stell dich nicht so an"

15.03.2025, 08:1215.03.2025, 08:12
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"Alle haben ADHS."

"Du siehst gar nicht krank aus."

"Diese Generation ist verweichlicht."

"Anderen geht es viel schlechter."

"Das hat’s damals nicht gegeben."

All das sind Sätze, die Stina Ziesemer schon gehört hat. Die 33-Jährige lebt mit zwei Kindern, Hunden und Mann bei Flensburg und hat ADHS, also eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Über ihre Erkrankung spricht sie auf Social Media. Nun hat sie ein Buch geschrieben.

In "Stell' dich nicht so an!" (Knaur Verlag) beschreibt Stina all die Kommentare, die Menschen mit mentalen Erkrankungen sich anhören müssen.

Wir sprachen mit ihr über Skepsis, Modediagnosen und Schlagfertigkeit.

watson: Du beschreibst, dass du dich schon als Kind oft "falsch" fühltest. In welchen Momenten?

Stina Ziesemer: So richtig habe ich es gemerkt, als ich jugendlich wurde. Vorher ging das "Anderssein" nicht mit negativen Emotionen einher, weil ich ein tolles Elternhaus hatte und mich dort sehr wohlfühlte. Erst später merkte ich zunehmend: Ich machte andere Dinge als Menschen in meinem Alter, war gerne allein, habe viel gelesen oder gezeichnet, anstatt mich zu treffen. Ich hatte schon Freund:innen, aber während viele unterwegs waren, blieb ich lieber zu Hause.

Noch ein Beispiel?

Ich bin, solange ich denken kann, früh ins Bett gegangen, weil mir Schlaf und ausgeschlafen sein sehr wichtig war. Andere machten die Nächte durch, ich las noch etwas und machte zeitig das Licht aus. Ich fühlte mich im Vergleich immer weniger belastbar, schneller erschöpft. Es ist schwierig, dieses Gefühl an konkreten Situationen festzumachen, eher ist es wie ein "Begleiter durchs Leben".

"Viele Menschen finden in der Beschreibung ADHS und einer Selbstdiagnose Frieden."

Von welchen Menschen kamen Kommentare wie "Stell dich nicht so an" oder "Du gibst dir keine Mühe"?

Ganz früh von Lehrkräften, in der weiterführenden Schule auch von Mitschüler:innen. Ab dem zweiten Bildungsweg kamen solche Sätze dann zunehmend von Ärzt:innen. Mitunter hatte ich auch Partner, die so etwas sagten. Entgegen der Vermutung vieler Menschen kamen sie glücklicherweise nie von meinen Eltern. Das hat sicher dazu beitragen, dass ich immer auf mein Herz gehört habe.

Wenn man es oft genug über sich hört – glaubt man irgendwann selbst, dass man sich anstellt?

Ja. Das ist das Fatale. Je öfter einem das gesagt wird, umso eher glaubt man es. Müssen die anderen nicht richtigliegen, wenn es so viele behaupten? Wieso glaube ich, dass ich krank bin, wenn mehrere Ärzt:innen vom Gegenteil überzeugt sind? Daher ist es so unglaublich wichtig, zu wissen, dass man nicht alleine ist mit diesen Gefühlen und Gedanken. Das macht einen meist schon stärker, sodass man den Weg bis zur Hilfe weiter stemmen kann.

Wie erleichternd war es angesichts dessen, eine Diagnose zu bekommen?

Die Diagnose wurde Ende 2023 gestellt und war zunächst gar nicht so erleichternd, wie ich gehofft hatte. Es war eher ein Überwältigtsein davon, dass plötzlich vieles Sinn ergab. Mit den Monaten kam die Erleichterung, vor allem, weil ich mich selbst nicht mehr verurteilte und nicht mehr so streng mit mir war. Dieses Selbstmitgefühl hat mich flexibler im Denken gemacht, ich erfinde eigene "Tricks", zum Beispiel für meine Unordnung. Ich versuche nicht mehr, wie andere zu leben, sondern kreiere ein Leben, das zu mir passt.

ADHS wird oft als Modediagnose verlacht. Was denkst du darüber?

Es wird als Modediagnose verlacht, weil es mehr Aufmerksamkeit erhält. Allerdings gab es davon vorher zu wenig. Es ist also im Grunde jetzt kein "zu viel", sondern wir sind auf dem Weg zur Realität, die Wahrnehmung ist nur verzerrt. Der Anschein trügt, Frauen sind meines Wissens nach immer noch unter-diagnostiziert. Die Wahrnehmung als Modediagnose entsteht, wenn über etwas zunehmend gesprochen wird, und gerade auf Social Media erlangen Themen schnell diese Bekanntheit.

"Die Unsichtbarkeit stellt auf jeden Fall ein Problem dar."

Über Social Media erfolgen auch viele ADHS-Selbstdiagnosen. Wie bewertest du das?

Selbstdiagnosen stehe ich zwiegespalten gegenüber. Zum einen verstärkt dieser Trend leider das Bild einer Modediagnose. Auf der anderen Seite sind Diagnoseplätze rar und viele Menschen finden in einer Selbstdiagnose Frieden. Mir sagte mal jemand: "Wenn ein Thema dich nicht tangiert, dann wirst du dich vermutlich auch nicht damit auseinandersetzen. Sobald du dich intensiv damit auseinandersetzt, scheint etwas dran zu sein." Ich habe mich beispielsweise nicht intensiv mit Lipödem auseinandergesetzt, obwohl es ebenfalls den Ruf einer Modediagnose hat.

Will sagen?

Wenn Menschen sich in der Beschreibung von ADHS wiederfinden, dann hat das meist eine Berechtigung. Anstelle zu "forschen", ob es zu viele fälschliche Selbstdiagnosen gibt, erachte ich es für viel wichtiger, für ausreichend Diagnosemöglichkeiten zu sorgen. Ich finde es wunderbar, dass ADHS enttabuisiert wird. Vielen Menschen wird dadurch geholfen, wie bei zahlreichen "unsichtbaren Lasten", die inzwischen besprochen werden.

Ist die Tatsache, dass man mentale Erkrankungen nicht "sieht", ein Grund für die Skepsis von Außen?

Die Unsichtbarkeit stellt auf jeden Fall ein Problem dar. Bei ADHS kommt das Maskieren hinzu, insbesondere bei Frauen. Dadurch ist es nicht nur "einfach unsichtbar", sondern sehr gut versteckt, teils bewusst, teils unbewusst. Das ist auch einer der Gründe, warum ADHS bei Frauen und Mädchen unter-diagnostiziert ist.

Warum bist du mit deiner Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen?

Ich bin durch Instagram darin bestärkt worden, die Diagnose anzugehen. Und das möchte ich anderen auch ermöglichen. Ich habe etliche Nachrichten erhalten von Menschen, die nun ihre Diagnose haben, weil sie bei mir oder anderen Accounts auf das Thema aufmerksam geworden sind und sich bestärkt gefühlt haben. Das ist so wertvoll! Ich liebe es, wenn ich ein "Weniger allein"-Gefühl erreiche.

Ist es ein Trost zu wissen, dass andere sich dieselben dummen Sprüche anhören müssen?

Puh, ich weiß nicht. Auf der einen Seite schon, weil ich mich weniger allein fühle. Auf der anderen Seite macht es das Problem nicht besser. Wenn mich selbst diese Sprüche triggern, darf ich aber auch immer überlegen, warum ich so darauf anspringe. Jeder kann nur so weit in mein Herz, wie ich ihn lasse.

"Wir wollen nicht aushalten, sondern leben."

Warum neigen Menschen dazu, sofort Ratschläge zu geben?

Hinter diesen Ratschlägen stecken Menschen, die es gut meinen, aber nicht besser wissen, und Menschen, die böswillig versuchen, zu verletzen. Die wenigsten sind offen für eine ehrliche Auseinandersetzung, Sie haben ihre eigenen Wunden und es bedürfte weitaus mehr als ein Gespräch, um komplexe, verinnerlichte Glaubenssätze aufzulösen. Niemand kann aus seiner Haut. Damit möchte ich nicht jene in Schutz nehmen, die mit ihren Äußerungen verletzen, aber dafür sensibilisieren, dass wir uns selbst stark gegen ungebetenen Ratschläge machen, uns wappnen. Wir entscheiden, wer uns verletzen kann.

Hast du gute Antworten gefunden für Sätze wie: "Stell dich nicht so an. Du bist einfach empfindlich"?

Ich stelle mich nicht nur an, ich stelle mich nicht mehr so weit hinten an!

"Heute haben ja alle ADHS. Früher hatten wir das nicht."

Früher gab es das nicht? Dann weißt du nicht viel darüber. Möchtest du mehr darüber wissen?

"Die jungen Leute halten einfach nichts mehr aus. Generation Snowflake."

Wir wollen nicht aushalten, sondern leben. Im besten Falle gesund.

"Anderen geht es viel schlechter."

Leider kann ich nicht alle retten, aber ich fange bei mir an.

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