Unser Autor kann sich durch ADHS oft nicht aussuchen, worauf er sich konzentriert. Bild: iStockphoto / Marjan_Apostolovic
Nah dran
15.09.2024, 15:2415.09.2024, 15:44
Ich habe ADHS. Meine Ex-Freundinnen haben das schon vor Jahren gewusst. Also wirklich alle meine Ex-Freundinnen. Nicht eine einzige war überrascht davon, als ich ihnen von meiner Diagnose erzählt habe. Eine reagierte mit Augenrollen und sagte: "Endlich".
Für mich war das neu. Und ein Schock. Lange Zeit habe ich mich gegen die Idee gewehrt, ADHS zu haben. Ich hatte stattdessen nur eine Reihe an hochspezifischen, individuellen und einzigartigen Traumata und Charakterzügen, die rein zufällig exakt mit ADHS-Symptomen übereinstimmten. Es hat ziemlich lange gedauert, bis ich diesen Teil von mir akzeptieren konnte.
Nach der Diagnose "ADHS" verstand ich mich selbst
Alle Kinder haben Probleme, in der Schule aufzupassen und stören mal den Unterricht. Das ist normal. Alle Kinder haben mal Wutanfälle. Ich war "verträumt", sagten meine Lehrer. Nichts weiter.
Als Kind bekam ich deshalb keine Hilfe. Auch als Jugendlicher nicht. Ich lernte zwar nie, schwänzte regelmäßig, aber ich hatte gute Noten. Und wer gute Noten hat, kann ja kein ADHS haben. Sagte jedenfalls mein damaliger Arzt. Ihm zufolge war ich einfach ein Delinquent. Oder faul, je nachdem.
Irgendwie kam ich trotzdem durch Abi und Studium. Man beißt sich so durch. Arbeitet halt mehr, sitzt auch am Wochenende in der Bibliothek und braucht eventuell ein paar Jahre länger. Vielleicht hat man hin und wieder einen Nervenzusammenbruch. Aber es geht.
Eine Beziehung führen mit ADHS kann schwierig sein, weiß watson-Redakteur Paul Seiler. Bild: Unsplash / toa heftiba
Und dann saß ich mit Anfang 30 beim Arzt, aus ganz anderen Gründen. Das Gespräch kam auf meinen Geisteszustand. Es folgten eine Überweisung zum Psychiater, diverse Tests und Interviews. Wie war meine Kindheit ("Scheiße"), wie empfand ich die Schule ("Erstickend"), was sagten Lehrer und Eltern über mich ("Oft abgelenkt")? Fünf Minuten, nachdem ich dem Arzt den mehrseitigen Fragebogen zurückgegeben hatte, sagte er: "Jup, wie aus dem Lehrbuch." Leider gab es keinen schicken Zettel, den ich mir einrahmen könnte.
Aber es machte "Klick" und die ganze schiefe Welt da draußen, in die ich nicht so richtig passen wollte, rückte für mich gerade. Vor der Diagnose war ich ein einzigartiger Unfall von Charakter – zu faul zum Lernen, zu unzuverlässig für Beziehungen, zu desinteressiert, um aufzupassen, zu arrogant, um sich zu ändern.
Seitdem bin ich ein Mensch mit ADHS.
Neurodivergent mit ADHS – was heißt das eigentlich?
ADHS steht für "Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung" und beschreibt eine Neurodivergenz, die durch eine gestörte Aufmerksamkeit und mangelnde Impulskontrolle gekennzeichnet wird. Das Ganze ist keine reine Verhaltensauffälligkeit, sondern ist in der Hirnchemie verankert: Bei neurodivergenten Menschen liegen sogenannte atypische neurologische Entwicklungen vor. Das Gehirn entwickelt sich anders als bei neurotypischen Menschen. Darunter fallen etwa Autismus, Legasthenie, Synästhesie und Bipolarität.
Bei ADHS ist ein Teil des Gehirns betroffen, der bestimmte Botenstoffe verarbeitet. Das heißt, es werden Hormone wie Dopamin und Noradrenalin im Gehirn anders verarbeitet als bei anderen Menschen. So anders, dass Aufputschmittel zum Beispiel eher eine psychisch beruhigende Wirkung haben. Adderall etwa, das oft als Medikament eingesetzt wird, ist ein Amphetamin. So wie Speed oder MDMA. Ich werde von Mate auch eher müde. Außer, ich trinke drei bis fünf Flaschen. Dann bin ich immer noch müde, aber ich hab Herzrasen.
"Ich habe nicht zu wenig Aufmerksamkeit. Ich kann mir nur nicht aussuchen, wofür ich sie habe."
Streng genommen ist der Name aber irreführend. Man müsste richtigerweise von einer Aufmerksamkeitsstörung reden, nicht von einem Defizit. Ich habe nämlich nicht zu wenig Aufmerksamkeit, ganz im Gegenteil: Ich habe viel zu viel davon. Ich kann mir nur nicht immer aussuchen, wofür. Vor einiger Zeit habe ich auf Empfehlung einer Freundin eine Romanreihe angefangen, knappe 4000 Seiten, englisch, Science-Fantasy. Zehn Tage später war ich durch und unendlich traurig, dass ich bis Ende des Jahres auf Band 4 warten muss.
Diese Aufmerksamkeitsstörung hat nicht immer etwas mit Wollen oder Vorlieben zu tun. Der Teil meines Gehirns, der Aufmerksamkeit steuert, funktioniert einfach anders. Meist impulsiver. Im Gegensatz zu anderen Menschen bin ich "zeitblind": Nicht in der Lage, Reize und Impulse auf "später" zu verschieben. Ich handle entweder "jetzt" oder "nicht jetzt".
Wie es in meinem Kopf aussieht
Ich bin also entweder derart vertieft in irgendeine spannende Sache, dass ich alles andere um mich herum in das Niemandsland "nicht jetzt" schiebe und wie besessen wirke.
Oder jeder einzelne Reiz, der aus der Umgebung auf mich einprasselt, ist "jetzt". Dann switche ich innerhalb von fünf Minuten von Youtube auf Spotify, skippe dreizehn Songs, starte einen Podcast, gehe auf Reddit, schreibe meiner besten Freundin, hole mir etwas zu futtern, spule den Podcast wieder zurück, weil ich wirklich gar nicht zugehört habe, beantworte eine Mail, hole mir meinen mittlerweile kalten Kaffee, spule den Podcast wieder zurück und so weiter.
Umgekehrt fällt es mir schwer, mich auf wenig spannende Aufgaben zu konzentrieren, weil das für mich eine aktive Anstrengung ist. Dabei ist erst einmal egal, ob es Hausaufgaben, Smalltalk oder das Abendessen ist. Was meine Dopamin-Schaltkreise nicht anspricht, taucht in meinem Blickfeld gar nicht auf. Ich schiebe diese Dinge auf. Das lässt sich erstaunlich lange durchhalten. Meist, bis es sich zu einer handfesten Krise auswächst und der "Kick" durch den Stress groß genug ist, um die Sache doch interessant zu machen.
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Für Andere klingt das erst einmal irgendwie "quirky" oder – wie meine Lehrer und meine Eltern früher gesagt haben – "verträumt".
Ist es aber nicht. Das ist verdammt anstrengend.
Ich überspringe zum Beispiel immer noch regelmäßig Mahlzeiten, weil ich nicht daran denke, etwas zu essen. Erst, wenn dann nach zwölf bis vierzehn Stunden Fasten der Kreislauf schreit und mir schwindelig wird, fällt mir ein, dass ich doch irgendetwas vergessen habe.
Die ADHS-Diagnose zwang unendlich viele Fragen auf
Wie geht man also mit sowas um?
Die Diagnose ändert nichts und doch alles. Man bleibt die gleiche Person, mit dem gleichen Leben, den gleichen Gefühlen und Problemen. Aber die ganze Welt um einen herum stürzt ein.
Und mit ihr auch das Selbstbild. Was wäre gewesen, wenn ich die Diagnose schon als Kind bekommen hätte? Bevor ich mehrfach fast von der Schule geflogen bin. Bevor ich mehrere Beziehungen zu fantastischen Frauen mit meiner emotionalen Dysregulation, mit meiner Gedankenlosigkeit und meinem Pendeln zwischen Besessenheit und Desinteresse zerstört habe. Vielleicht hätte ich es tatsächlich an eine der Elite-Unis geschafft, bei denen ich zur Aufnahmeprüfung angemeldet war und nie aufgetaucht bin.
All das geht einem durch den Kopf, während man auf der Couch sitzt und heult, weil man um einen Menschen trauert, den es nie gab, der man aber hätte sein können. Der vielleicht glücklich wäre.
ADHS lässt sich nicht heilen, aber managen
Der pragmatische Weg, damit umzugehen, ist Selbstdisziplin.
Die Wahrheit ist, dass mich jeden Abend ein Wecker ans Abendessen erinnert. Und daran, pünktlich ins Bett zu gehen. Und dass ein Zettel im Bad klebt, auf dem steht, dass man sich vor dem Schlafengehen die Zähne putzt. Den hänge ich alle paar Tage um, weil ich ihn sonst ignorieren lerne.
"Ich weiß nicht, wie mein Leben gewesen wäre, wenn ich normal wäre. Ich weiß nicht einmal, was normal ist."
Die Wahrheit ist, dass man sich selbst lieben lernt, weil es gar nicht anders geht. Und dass man sich selbst und anderen gegenüber ehrlich wird. Ich weiß nicht, wie mein Leben gewesen wäre, wenn ich normal wäre. Ich weiß nicht einmal, was normal ist. Aber ich weiß jetzt, dass ich ADHS habe. Und dass man damit umzugehen lernen kann.