Kaum einer Person ist man näher als der eigenen Mutter. Aber wie geht man damit um, wenn man immer wieder von ihr enttäuscht wird?Bild: Unsplash / Ben White
Mental Health To Go
Das Verhältnis zu unseren Eltern kann großen Einfluss auf die mentale Gesundheit haben. Das weiß unser Kolumnist aus eigener Erfahrung. Er hat den Kontakt zur Mutter vor Jahren abgebrochen.
Als mein Dad mit 18 Jahren als Saxophonist in einer Jazzband spielte, war er immer der Kleine. Die anderen Jungs waren deutlich älter und hatten sich das ein oder andere Groupie schon geschnappt. Sie alle hatten Sex, sie probierten sich aus, Dad hatte sein Saxophon. An nichts anderes dachte er. Das Instrument erlaubte ihm, von zu Hause auszubrechen.
"Du musst jetzt aber auch endlich mal, Peter", nervten ihn seine Band-Jungs. Lange hat sich Dad das angehört und er fühlte sich nicht wirklich gut dabei. Und dann kam dieser Gig im Sommer. Und da stand eine wunderschöne Frau in der ersten Reihe, lange schwarze Haare, riesige Augen, die blau und grün strahlten. Bea!
Und dann war da Dads erstes Auto, ein VW-Käfer, so alt, dass man durch den Boden des Wagens die Straße sehen konnte. Dennoch schafften sie es, nach dem Auftritt in einen Steinbruch zu fahren.
Über "Mental Health to go"
Deutschland ist erschöpft, sagen Expert:innen. Ob jung oder alt, ob Gen Z oder Boomer, viele kommen einfach nicht klar. Alles too much, alles nicht so, dass sich das Leben gut anfühlt. Was also tun? Das wird, da ist sich Mike Kleiß so sicher wie viele Expert:innen, das zentrale Thema unserer Gesellschaft werden. Je klarer wir mit uns und der Welt sind, je mehr wir gut auf uns achten, desto besser kann die Welt für uns werden. Wir müssen es eben nur tun! In "Mental Health to go" bekommt Ihr jede Woche ein kleines Stückchen Energie. Tipps und Anregungen, nahbare Geschichten, die euch inspirieren sollen
Bandjunge und Groupie: Das Kennenlernen meiner Eltern war ein Klischee
Es ist einfach so ganz schlimm Klischee, aber es war genau das. Mein Vater und meine Mutter kamen unter Umständen zusammen, die komplett weird waren. Er war auf der Bühne, sie himmelte ihn an. Das war es dann aber auch. Sie hatten nichts, aber auch nichts gemein.
Dad wollte studieren, die Eltern meiner Mutter hatten eine Kneipe. Ihre Eltern tranken zu viel und standen kurz vor der Scheidung, als ich zur Welt kam. Mein Vater und Bea heirateten, weil das damals so sein musste. Und wie man leicht vermuten kann, endete alles in einem fürchterlichen Chaos.
Der Bandjunge zog mit seiner Braut über der Kneipe ein und kümmerte sich um mich. Bea kellnerte in der Kneipe ihrer Eltern und tauchte irgendwann mitten in der Nacht erst auf. Dad war unfassbar alleine, mit einfach allem. Viele Jahre später gestand er mir: "Du hast dein Leben eigentlich dem Dickkopf deiner Mutter zu verdanken. Wir fuhren zusammen zum Arzt, um abtreiben zu lassen. Sie ging alleine in die Praxis und suggerierte mir, dass es geschehen sei. Sie hatte gelogen. Gott bin ich froh, dass sie das so entschieden hat. Auch wenn sie mich damals verarschte."
Keine Nachricht, kein Anruf: Sich nicht mehr zu melden bei der eigenen Mutter, ist nicht einfach.Bild: Unsplash / kelly sikkema
Ich erinnere mich, dass ich sprachlos, traurig und unter Schock war, als er mir dies erzählte. Und ja, ich bin meiner Mutter dankbar für ihren Dickkopf. Aber auch für keinen Krümel mehr. Ihrem Vater, meinem Großvater, bin ich bis heute dankbar, dass er nach gut einem Jahr bemerkte, dass ich nicht weiter in der Wohnung über der Kneipe sein konnte und durfte. Er packte einige wenige Sachen und stand mitten in der Nacht mit mir vor der Türe von Dads Eltern. "Nehmt ihn bitte bei euch auf. Der Kleine wird bei euch Frieden finden, bei uns lebt er im Dreck. Bea ist nicht in der Lage, euer Sohn auch nicht."
Oma nahm mich auf den Arm, Opa umarmte uns. Sie dankten Beas Vater und bis zu seinem Tod hatte er ihren tiefsten Respekt. Mein Vater war damals gerade 19, Bea 18, Oma und Opa Anfang 40. Dad und Bea ließen sich scheiden. Bea und ihr Vater gingen gemeinsam nach Brasilien, nachdem sich auch ihr Vater von meiner Großmutter getrennt hatte.
"Wer ist meine Mutter? Du bist es nicht"
Ich sah meine Mutter zum ersten Mal bewusst, als ich elf Jahre alt war. Bis dahin kam ab und an ein Brief, mal ein Paket zu meinem Geburtstag. Später erfuhr ich, dass ihr Vater sie quasi aufforderte, den Kontakt zu halten. Alle paar Jahre ein Brief oder ein Paket war dann ihre Definition von Kontakt.
Als ich sie sah, war es einfach eine Frau, der ich irgendwie ähnelte. Wir hatten keine Themen, keine Anknüpfungspunkte, keine Liebe. Da war einfach nichts. Ich fühlte nichts. Verantwortung trugen andere, nicht der Bandjunge, nicht das Groupie.
Kein leichter Schritt. Aber manchmal notwendig: der Kontaktabbruch zu den eigenen Eltern.Bild: unsplash / markus spiske
Bea betonte vom ersten Moment an, dass sie meine Mutter sei. Auch in anderen Kontaktmomenten war immer der erste Satz: "Aber ich bin doch deine Mutter." Und immer wieder dachte ich: "Sorry, auf dem Papier schon. Aber du bist es in Wahrheit nicht. Wir haben uns nichts zu sagen, wir kennen uns nicht, wir wissen nichts voneinander. Wir können sicher auch gut ohne einander. Geh! Ich gehe!"
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Das Muster meiner Mutter blieb das gleiche. Sie tauchte ab, sie tauchte plötzlich wieder auf. Reckte sie den Kopf aus dem Wasser, hatte sie sehr viele Entschuldigungen, warum sie so lange tauchen war. "Aber ich bin doch deine Mutter."
Noch schräger war, dass sie augenscheinlich immer wieder meine Telefonnummer verlegt hatte. Entweder mein Vater oder meine Großmutter riefen mich dann an: "Soll ich Bea nochmal deine Nummer geben?" Die Frage wurde zum Running Gag. Meine Großmutter sagte eines Tages zu ihr: "Bea. Hol sie dir woanders. Von mir bekommst du sie nicht mehr."
Bei jedem Auftauchen spürte ich, dass Bea nicht gut für mich war. Weder für mich war sie es, noch für den Rest der Familie. Jeder hatte seine eigene Geschichte mit ihr und die Tragik dabei war: Bea war stets haltlos. Sie muss eine sehr einsame Seele sein, vielleicht ist sie es heute noch. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt noch lebt. Der letzte Kontakt war ein Anruf vor 20 Jahren.
Als sie "aber ich bin doch deine Mutter" sagte, unterbrach ich sie und sagte: "Sorry, Bea. Wir haben das Spiel nun lange Jahre gespielt. Es findet jetzt sein Ende. Einmal Klartext: Das einzige, was dich zu meiner Mutter machen könnte, ist die Tatsache, dass du mich auf diese Welt gebracht hast. Dafür bin ich dir dankbar. Mehr ist da aber nicht. Du warst nie eine Mutter, den Job haben andere gemacht. Und übrigens sehr gut gemacht. Und deshalb lebst du jetzt dein Leben und ich lebe meines. Ich wünsche dir Frieden und ein wirklich ganz glückliches Leben." Sie kam nur bis zu "aber ich", dann legte ich auf.
Kontaktabbruch zur eigenen Mutter: Was das bedeutet
Es war das Gewitter, das es gebraucht hat. Jedenfalls für mich. Ich habe seither von Bea nichts mehr gehört. Gut so. Nicht für sie, aber ganz sicher für mich. Als ich diese Entscheidung traf, wusste ich, dass das erst der Anfang sein würde, endlich mit dem Schmerz in mir arbeiten zu können.
Durch die Distanz kehrte Ruhe ein. Diese Ruhe eröffnete mir den Raum, endlich aufzuräumen. Und zwar sehr gründlich. Meine mentale Gesundheit war bis zu diesem Zeitpunkt okay, aber nicht wirklich gut. Und es war ein sehr langer Weg, den ich dann gehen musste, um ganz gesund zu werden. Alleine der Abschied hätte wahrscheinlich nichts gebracht. Erst die Aufarbeitung der ganzen Geschichte, vom Steinbruch bis zum Bruch am Telefon, eröffnete mir die Chance der inneren Heilung.
Seither habe ich Frieden. Und ich hoffe, Bea hat ihren gefunden.