Tantra und Yoga haben ihren Ursprung in Indien.Bild: pexels / KoolShooters
Interview
Tantra, das assoziieren viele Menschen mit FKK und Sex. Doch gerade erfährt die fernöstliche Lehre ein kleines Comeback – dank der Gen Z. Viele von ihnen wollen nicht mehr dem Credo von höher, schneller, weiter folgen, sondern suchen den Weg zu sich selbst. Im Tantra hoffen einige, ihn zu finden.
Aber was genau ist Tantra überhaupt? Welche Rolle spielt Sex dabei? Und was sollte man wissen, wenn man einen Kurs bucht?
Wir sprachen darüber mit Joy und Thomas von "YouMeUnity" und der Psychologin Jana Nuyken (28). Alle drei praktizieren Tantra in Deutschland.
watson: Was ist der Unterschied zwischen Yoga und Tantra?
Joy und Thomas: Tantra ist Yoga plus Ekstase. Wenn wir von Yoga sprechen, haben wir meist das bei uns Westler:innen beliebte Hatha Yoga im Kopf. Es handelt sich dabei um einen überwiegend asketischen Pfad. Fleischliche Gelüste haben beim Yoga offiziell nichts zu suchen. Tantra hingegen entstand außerhalb der Ashrams und Klöster als Möglichkeit, Erleuchtung zu erlangen und gleichzeitig im irdischen Leben zu stehen. Dafür ist es okay, einen Beruf auszuüben, reich zu sein und sich der Freude hinzugeben.
Jana: Es ist eine uralte, spirituelle Praxis, um wieder in die Freiheit zu kommen. Wir Menschen laufen sonst immer in einem System mit, in der Familie, der Schule, auf der Arbeit, auch wenn diese Systeme gar nicht so viel mit uns zu tun haben. Wieder ganz tief mit dem in Verbindung zu kommen, was du selbst willst, deinem Herz, deinem Inneren – das nennt sich Tantra.
Mit Sex hat das nichts zu tun?
Jana: Sex kann dazugehören, weil wir im Sex unsere Bedürfnisse stark spüren und unseren Mitmenschen nahe sein können, sofern wir keine Pornos imitieren. Diese Verbindung kann aber auch eine intensive Umarmung oder ein tiefgehendes Gespräch erzeugen. Wenn etwas aus dem Herzen geschieht, ist es Tantra.
"Das größte Missverständnis ist, dass es bei Tantra hauptsächlich um Sex ginge."
Joy und Thomas
Wie kommen Menschen zum Tantra?
Joy und Thomas: Nach unserer Erfahrung sind viele unserer Teilnehmer:innen auf einem spirituellen Weg zu sich selbst, und da ist Tantra ein logischer Schritt. Tantra gilt als der schnellste Weg zur Erleuchtung.
Jana: Bevor ich selbst zum Tantra kam, hatte ich verschiedene Yogalehrer-Ausbildungen gemacht, die erste mit 18 Jahren. Bei einem Aufenthalt auf Bali bin ich dann mit Tantra in Berührung gekommen.
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Was ist das häufigste Missverständnis?
Joy und Thomas: Das größte Missverständnis ist, dass es bei Tantra hauptsächlich um Sex ginge. Das ist nicht der Fall. Im klassischen buddhistischen Tantra müssen die Schüler:innen sogar erst jahrelang allein meditieren, ehe sie sich mit der hohen Praxis der sexuellen Vereinigung beschäftigen.
Warum verbinden wir Tantra mit Sex?
Joy und Thomas: Möglicherweise liegt es daran, dass wir eine große Sehnsucht nach Freiheit in der Sexualität haben, diese aber jahrhundertelang unterdrückt wurde. Eine der Konsequenzen des Patriarchats ist, dass es für viele auch in der Sexualität um das Höher, Schneller, Weiter geht. Es entsteht ein Leistungsdruck auf beiden Seiten. Was wir wieder lernen dürfen, ist die Kunst der Langsamkeit. Wir sind beispielsweise darauf konditioniert, Sex als schlecht einzustufen, wenn nicht beide oder zumindest ein Partner einen Orgasmus hatte. Von diesen alten Konditionierungen gilt es, sich zu lösen. Da kann Tantra extrem hilfreich sein.
Jana: Sex sells. Einige nutzen das, um mit Tantra Geld zu machen. Da bin ich als hauptberufliche Psychologin sehr kritisch. Es ist manipulativ, wenn Menschen erst suggeriert wird, sie seien krank, um sie dann zu "heilen". Tantra kann zwar tatsächlich zur Heilung beitragen, aber kein:e Lehrer:in darf dir einreden, dass etwas mit dir falsch wäre und du das mit dieser und jener Übung richten könntest. Das wäre reine Geldmacherei.
Aber Tantra kann zur Heilung beitragen, sagt ihr – worauf sollte man achten?
Joy und Thomas: Du solltest bereit sein, ehrlich zu dir zu sein, deine Sehnsüchte zu ergründen. Dazu gehört, dass du dich zeigst, mit all dem, was du lieber unter den Tisch kehren würdest. Wenn du durch diese Prozesse gehst, kannst du riesige Sprünge in Richtung mehr Selbstliebe machen. Gleichzeitig ist unsere Erfahrung, dass eine Gesprächstherapie oder Psychoanalyse gut mit Tantra zusammengeht. Es ist ein gutes Stück des Weges, Traumata über die verbale Ebene zu bearbeiten. Intuitiv lösen lassen sie sich oft, wenn wir den Körper mit einbeziehen.
Jana: Jeder Mensch kommt verbunden mit sich zur Welt, aber durch Traumata oder das normale Mitlaufen im System, entfernen wir uns davon. Manche spüren irgendwann, dass sie diese Verbindung wieder haben wollen, dass ihnen etwas fehlt. Das muss aber von selbst kommen, das darf einem keiner einreden.
"Tantra bedeutet (...) nicht, die Bedürfnisse eines Mannes zu befriedigen."
Jana
Einige Sexualtherapeut:innen warnen vor übergriffigen Tantra-Sessions. Wie erkenne ich unseriöse Anbieter?
Joy und Thomas: Sexuelle Handlungen sind ein Kann, dürfen aber nicht vorausgesetzt werden. Und auch jenseits der sexuellen Ebene wird dich ein:e gute:r Tantralehrer:in immer daran erinnern, langsam zu machen, deine Grenzen und Bedürfnisse zu respektieren und dir die Wahl lassen, ob du eine Übung machst oder nicht. Wir empfehlen dir, dich mit den Anbietern zu beschäftigen und zu schauen, ob du mit den Inhalten konform gehst, auch intuitiv. Meistens hilft es, ein Vorgespräch zu erbitten. Oder aber, den Anbieter erst bei einem kleineren Event kennenzulernen, bevor du dich in ein Retreat stürzt.
Jana: Wenn ich Tantra google und auf Seiten lande, wo halbnackte Frauen dargestellt werden, deren Leistungen man für Geld kaufen kann, finde ich das furchtbar. Das widerspricht allem, wofür Tantra steht. Tantra bedeutet nicht nur Sex und schon gar nicht, die Bedürfnisse eines Mannes zu befriedigen, im Gegenteil. Gerade für viele Frauen ist Tantra ein befreiendes Element, weil es ihnen hilft, wieder herauszufinden, was ihr Körper braucht.
Ihr sagt, dass mehr junge Menschen kommen. Woran erkennt ihr das?
Joy und Thomas: Wir haben Abendformate, die von Einsteigern gerne gebucht werden. Da ist es oft so, dass sich hauptsächlich Menschen zwischen 18 und 45 Jahren einfinden. Meistens wissen wir das auch schon, bevor die Menschen kommen, weil sie nach einem Studentenrabatt fragen.
Habt ihr eine Idee, warum die Gen Z kommt?
Joy und Thomas: Der eine Grund dafür ist sicher, dass wir in Heidelberg eine große Uni haben. Ein anderer, dass wir keine Versprechungen machen, was sexuelle Erfahrungen angeht, diese auch nicht forcieren. Ein weiterer Grund, ist, dass gerade die junge Generation oft schon sehr weit auf ihrem ethisch-spirituellen Weg ist.
Gab es auch blöde Reaktionen von außen, weil ihr Tantra praktiziert?
Jana: Einige. Augenzwinkern und "Oho, machst du dann auch Penismassage?!" zum Beispiel. Extrem übergriffig, als ob ich eine Prostituierte wäre. Da merkt man sofort, die Person hat gar keine Ahnung. Traurig, dass so viel Unwissen da ist.
"Gerade Kopfmenschen sagen, dass sie sich bei uns neu sortieren konnten."
Joy und Thomas
Erlebt ihr, dass euch Menschen als "Eso" belächeln?
Joy und Thomas: Ja, klar. Oder auch, dass sie zunächst einen Bogen um Tantra machen. Doch wenn sie sich öffnen, passiert es oft, dass sie aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Gerade Kopfmenschen sagen, dass sie sich bei uns neu sortieren konnten. Und wenn sie dann mehr im Herzen und im Körper ankommen, ist das ein Geschenk für sie selbst und auch für ihre Mitmenschen.
Stört euch die Skepsis?
Joy und Thomas: Schön fühlt es sich nicht an, wenn jemand das, was wir mit Liebe und Leidenschaft lehren, abzulehnen scheint. Aber wir dürfen uns daran erinnern, dass auch unser Weg, mit kleinen Schritten begonnen hat. Und auch, dass dieser Weg nicht unbedingt der unseres Nachbarn sein muss – dies gilt es zu respektieren.