Gewalttaten, die schockieren, gibt es immer wieder: Die Messerattacke im Regionalzug von Kiel nach Hamburg und das Twitter-Video, auf dem zwei minderjährige Mädchen auf eine am Boden liegende 14-Jährige eintreten, sind zwei aktuelle Beispiele von Anfang des Jahres.
Durch richtiges Verhalten von Zeug:innen kann im besten Fall Schlimmeres verhindert oder zumindest zur Aufklärung des Falles beigetragen werden. Dazu braucht es vor allem eines: Zivilcourage.
watson hat sich von Ernst Nieland Tipps geben lassen, wie man in solchen Momenten das Richtige tut: Er ist Zivilcouragetrainer in Nordrhein-Westfalen.
In seinen Kursen im Rahmen der Stiftung muTiger versucht er, den oft jugendlichen Teilnehmer:innen das richtige Handwerkszeug mitzugeben, wie man sich einmischt, ohne selbst zu Schaden zu kommen.
watson: Wenn man als junger Mensch Zeug:in wird von Gewalt oder Bedrohung in der Öffentlichkeit: Wie verhält man sich richtig?
Ernst Nieland: Wichtig ist grundsätzlich immer die eigene Unversehrtheit. Es ergibt überhaupt keinen Sinn, sich irgendwo als Helfer reinzustürzen und selbst zum Opfer zu werden. Man muss die Situation nach Möglichkeit richtig einschätzen und dabei immer Wert auf die eigene Sicherheit legen. Und man muss das nicht alleine machen. Man kann versuchen, andere mit ins Boot zu holen – schon deshalb, damit sie in der Folge als Zeuge zur Verfügung stehen. Wenn die Umstehenden sich bereit erklären, sich mit einem der Situation zu nähern, dann ist das schon sehr gut.
Wie schafft man es, die eigene Angst zu überwinden?
Das Wichtigste ist, dass man nicht in eine Schockstarre verfällt. Zu denken, das überfordert mich, da werde ich nicht damit fertig. Und schon stehen wir da und rühren uns nicht mehr. Es gibt kleine Tricks, wie man damit umgehen kann. Zum Beispiel mit der Atmung: Einmal tief einatmen, und tief wieder ausatmen. Sie kriegen davon nicht die absolute Ruhe, aber es geht darum, handlungsfähig zu bleiben.
Der nächste Schritt wäre dann, sich der Situation zu nähern und zu beobachten. Je mehr ich darüber weiß, wie ich mit den Leuten umgehen kann, desto besser kann ich helfen.
Was mache ich dann?
Primär gilt: nicht die Täter ansprechen und nicht provozieren, sondern das Opfer ansprechen. Das nennt man paradoxe Intervention. Man kann versuchen, die Situation mit einer Frage zu stören. Zum Beispiel: "Wo ist denn die nächste Polizeistation?". Gar nicht so sehr auf die konkrete Situation eingehen, also nicht: "Brauchen Sie Hilfe, sind Sie in Gefahr?" Das ist kontraproduktiv. Einfach versuchen, die Täter ein bisschen zu verblüffen und vielleicht dem Opfer die Möglichkeit zu verschaffen, aus der Situation zu entkommen.
Was ist, wenn der oder die Täter:in sich dann mir zuwendet?
Dann hätte man eine Situation, die man natürlich vermeiden will: Dass der Täter sich auf mich fokussiert. Dann müsste man irgendwie versuchen, das Gespräch so zu verlängern, dass der Täter sich nicht weiter provoziert fühlt. Vielleicht mit einer anderen Frage aus dem Bereich der paradoxen Intervention: "Weiß deine Mutter eigentlich, was du hier machst?" Wenn Sie Glück haben, denkt der Täter kurz darüber nach und Sie haben die Gelegenheit, da noch herauszukommen.
Wenn etwas an einem belebten Ort passiert, dann könnte ich mir Verstärkung von außen holen. Wie?
Das ist wie bei der Ersten Hilfe. Man muss die Leute aus der Anonymität herausholen, um gegen das Böse anzugehen. Also die Leute gezielt ansprechen, mit einem klaren Auftrag, zu helfen. Zum Beispiel: "Der junge Mann braucht Hilfe, er kommt alleine nicht klar." Diese Botschaft muss man mit einer direkten Ansprache verbinden. Das üben wir mit den Teilnehmern unserer Kurse immer wieder. Zum Beispiel, indem man jemanden mithilfe seiner Kleidung anspricht, dass derjenige weiß, er ist gemeint: "Sie, mit dem roten Schal, Sie sehen doch, was hier passiert, können Sie mir nicht helfen? Ich will einem jungen Mann aus der Not helfen."
Alleine gegen Gewalt vorzugehen, ist immer sehr schwierig. Je mehr Leute da sind, umso erfolgversprechender ist es, und sicherer. Täter sind keine Helden, sondern die suchen sich ein Opfer, um ihr Mütchen zu kühlen. Wenn der Täter aber sieht: Das Opfer ist gar nicht mehr so alleine, dann ist es oftmals so, dass er sich wieder zurückzieht.
Es gibt Täter:innen, die sehr gefährlich sind. Gibt es eine Möglichkeit, wie ich von außen abschätzen kann, wen ich da vor mir habe?
Wenn der Täter eine Waffe hat, gilt auf jeden Fall: geordneter Rückzug und die Polizei rufen. Da hört alle Hilfsbereitschaft auf. Ansonsten einschätzen und abwägen, schauen, ob der Täter irgendwelche irrationalen Anstalten macht. Die Maxime ist deine eigene Unversehrtheit, die ist überhaupt das Wichtigste. Denn nur, wenn du selbst unversehrt bleibst, kannst du auch anderen Menschen helfen.
Gibt es auch Tipps, die Sie Menschen in einer Opfer-Situation mit an die Hand geben können?
Problematisch ist, wenn sich das Opfer selbst zu einem macht. Wenn jemand zusammengekauert und introvertiert erscheint, das sind die typischen Merkmale eines Opfers, auch für die Täter. Aus dieser Nummer muss man raus oder erst gar nicht rein. Man sollte versuchen, die eigene Körpersprache zu steuern, sich aufrichten, die Schultern nach hinten nehmen und ruhig mal sagen: "Ich möchte das nicht, was Sie da mit mir machen." Es gibt immer vor der Gewalt eine Situation, und aus der muss man versuchen herauszukommen.
Wenn das nicht gelingt: Wie schütze ich mich?
Es gibt immer wieder Gewaltsituationen, wo ein Mensch auf den Boden gebracht wird, sodass man auf ihn drauftreten kann. Da wird vom Täter billigend in Kauf genommen, dass dieser schwer verletzt wird. Wenn man liegt, gibt es nur eins: Embryonalhaltung, um die wichtigsten Körperteile zu schützen. In so einer Situation müssen Sie zuerst einfach nur überleben.
Was ist im Fall Dilan schiefgelaufen, die 2022 an einer belebten Straßenbahnhaltestelle in Berlin verprügelt wurde? Das Mädchen war couragiert und hat alles richtig gemacht, so scheint es. Sie hat sich nicht als Opfer verhalten und doch ist sie zu einem geworden.
Als erstes: Nicht den Täter provozieren. Das, was an Dilans Beispiel so erschreckend war, ist, dass sie die anderen Menschen angesprochen und um Hilfe gebeten hatte. Aber die haben nicht reagiert. Wichtig wäre hier, dass man die Hilfe noch mal nachdrücklich einfordert.
Was Dilan überhaupt nicht versucht hat, ist physisch Abstand zu den Tätern aufzubauen. Man sollte versuchen, sich aus der Situation heraus zu bewegen. Angst ist ein legitimes Gefühl und ich darf mich dann auch ruhig mal so verhalten: mit Rückzug. Und wenn schon die anderen Leute nicht helfen, dann bleibt mir nicht viel anderes.
Warum bringen oft nur wenige Menschen Zivilcourage auf?
Die große Angst ist immer, selbst zum Opfer zu werden. Es gibt aber auch ganz unsinnige Beweggründe. Zeitmangel zum Beispiel: "Ich soll mich als Zeuge zur Verfügung stellen, womöglich noch vor Gericht aussagen? Will ich alles nicht."
Ein anderes Problem ist, dass die Leute denken, sie müssen körperlich etwas aushalten. Das ist aber Unsinn, jeder sollte nach seinen Möglichkeiten agieren und die körperliche Auseinandersetzung mit den Tätern macht überhaupt keinen Sinn. Zusammengefasst: Halte Sicherheitsabstand, auch wenn du dich der Situation zur Einschätzung näherst – ganz wichtig, damit der oder die Täter nicht zugreifen können. Die eigene körperliche Unversehrtheit bewahren. Das Opfer ansprechen, nicht den Täter provozieren.