Mit 26 Jahren erlebte Christina Pingel erste Herzstolperer, ernst genommen wurden diese jedoch nicht.Bild: Piper Verlag / Sinja Schwarz
Interview
05.09.2024, 19:4005.09.2024, 22:54
Christinas' Mutter war 33 Jahre alt, als ihr Herz aufhörte zu schlagen. Sie wurde nach der Reanimation zum Pflegefall, starb in einem Heim. Dass sie Probleme mit dem Herzen hatte, war bekannt, aber "Sie sind doch noch eine junge Frau", hatten Ärzt:innen oft gesagt und sie unzureichend behandelt – bis sie zusammenbrach.
Mit 26 Jahren erlebte auch Christina erste Herzstolperer, ging zum Kardiologen und erhielt dieselbe Antwort: "Sie sind noch eine junge Frau." 10 Jahre lang kämpfte sie darum, mit ihren Beschwerden ernst genommen zu werden, bekam jedoch vor allem psychische Erkrankungen diagnostiziert.
Erst 2022 wurde erkannt: Christina Pingel's linke Herzklappe war defekt. Sie schleppte ein lebensgefährliches, kardiologisches Problem mit sich herum.
Nach diesem Erlebnis schrieb Christina Pingel ein Buch ("Diagose: Frau", Piper Verlag) über den Gender Health Gap und das Medical Gaslighting, das ihr nach ihrer Mutter auch fast noch ihr eigenes Leben geraubt hätte. Wir trafen die 38-Jährige zum Gespräch in Hamburg.
Autorin Christina PingelBild: piper verlag / Sinja Schwarz
watson: Christina, warum gehst du mit deiner Geschichte an die Öffentlichkeit?
Christina Pingel: Ich habe mir mein Leben lang in Bezug auf meine Mutter angehört, dass "so etwas passiert". Gleichzeitig hat mein Vater immer gesagt: "Deine Mutter hätte einen Herzschrittmacher gebraucht." Ich hatte daher immer Zweifel, ob ihre Erkrankung und letztlich auch ihr Tod vermeidbar gewesen wäre. Als dann meine Symptome starteten, aber erst zehn Jahre später korrekt zugeordnet wurden, ist der Groschen gefallen: Sowohl meine Mutter als auch ich wurden fehlerhaft diagnostiziert oder behandelt, weil wir junge Frauen waren. Der Fehler liegt im System.
Deine Mutter erlitt ihren Herzstillstand in den 90ern. Geändert hat sich aber nichts?
Es hat mich schockiert, wie wenig in all den Jahren passiert ist, was Gendermedizin betrifft. Frauen werden oft unzureichend oder falsch behandelt. Ihre Körper funktionieren anders als die von Männern. Sie weisen andere Symptome auf und reagieren häufig anders auf Medikamente. Der Gender Health Gap kostete mich fast das Leben.
"Mehrfach stand ich vor Notaufnahmen und ließ mir von Mediziner:innen erklären, dass sich alles nur in meinem Kopf abspiele."
Die ersten Herzstolperer hast du gespürt, als du 26 Jahre alt warst. Und dann?
Dann hat mein Hausarzt mich zum Kardiologen überwiesen, allerdings gleichzeitig gesagt, dass es sicher eher ein Burnout sei. Der Kardiologe stelle eine leichte Insuffizienz an der Mitralklappe fest. Aber das sei nicht schlimm, ich sei schließlich noch eine junge Frau. Wie ich später erfuhr, schrieb er daraufhin dem Hausarzt, dass ich regelmäßig kardiologisch überprüft werden sollte. Dieses Schreiben ist untergegangen. Ich ging also mit dem Gedanken nach Hause: Ich wurde gecheckt, alles nicht so schlimm.
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Es war aber schlimm?
Ich spürte immer öfter, wie mein Herz stolperte, dass mein Körper schwach war, ich kaum schlafen konnte. Ich versuchte normal weiterzuleben, meinen Alltag zu führen, aber erlebte immer öfter Panikattacken. Mehrfach stand ich vor Notaufnahmen und ließ mir von Mediziner:innen erklären, dass sich alles nur in meinem Kopf abspiele und ich mich beruhigen solle.
Die Mär von der hysterischen Frau.
Hysterie wurde jahrhundertelang als Frauenkrankheit betrachtet. Da braucht man sich eigentlich nicht wundern, wenn das in Zügen noch festsitzt in den Köpfen. Allerdings hatte ich ja tatsächlich eine Angststörung entwickelt. Ich habe mich selbst in die Psychiatrie eingewiesen, weil gar nichts mehr ging. Heute bin ich aber überzeugt: wären meine Herzprobleme erkannt worden, wäre es nicht so weit gekommen.
Wie meinst du das?
Die Panikattacken wären wohl trotzdem gekommen, aber ich hätte anders damit umgehen können. Jetzt weiß ich: Ich habe tatsächlich eine Erkrankung am Herzen, dagegen kann man operieren, Medikamente nehmen, regelmäßig kontrollieren, ob sich etwas verändert. Das ist zwar nicht schön, aber besser als dieses Gefühl, belächelt zu werden.
"Ignoranz hat mir meine Mutter weggenommen – so habe ich das gesehen."
Es war eine Kardiologin, die deinen Herzklappenfehler Ende 2021 erkannte und zur OP riet. Was war das für ein Gefühl, endlich eine körperliche Diagnose zu haben?
Zuerst war da riesige Angst, weil eine OP am Herzen natürlich krass ist. Das zweite Gefühl war Machtlosigkeit, weil niemand vor dem eigenen Körper davonrennen kann. Aber dann kam ein drittes Gefühl: Wut. Richtig starke Wut.
Bild: Piper Verlag
Hattest du das Bedürfnis, die Diagnose zu nehmen und allen Ärzt:innen der Vergangenheit an die Stirn zu knallen?
Das auch. Aber eigentlich kam die größte Wut auf, als ich begriff, dass auch meiner Mutter hätte geholfen werden können. Auch sie hatte Herzprobleme, auch sie wurde falsch behandelt, weil sie eine Frau war. Ignoranz hat mir meine Mutter weggenommen – so habe ich das gesehen. Sie hätte an meiner Seite bleiben können.
Wann hat dir deine Mutter besonders gefehlt?
Sie fehlte mir immer und fehlt mir auch bis heute. Ich hatte eine Mutter im Pflegeheim, die sich nicht an mich erinnerte – was sich für mich oft schlimmer anfühlte als eine tote Mama. Doch auch mein Vater wurde Opfer der Gender Health Gap, das wurde mir jetzt klar.
Inwiefern war dein Vater betroffen?
In erster Linie wurde ihm die Frau genommen. Dann musste er sich auf einmal, mit damals 37 Jahren, allein um ein Kind und eine Frau im Pflegeheim kümmern. Er hätte therapeutische Hilfe gebraucht. Aber es wurde erwartet, dass er das als "harter Mann" stemmt.
Meinst du, dass Vorurteile also beiden Geschlechtern gesundheitlich schaden?
Ja, der Gender Health Gap betrifft uns alle, direkt oder indirekt. Bei Frauen werden beispielsweise Herzinfarkte seltener erkannt, bei Männern Brustkrebs, Frauen wird früher ins Wort gefallen, wenn sie ihre Symptome beim Arzt schildern, psychische Erkrankungen von Männern teilweise ignoriert. Das ist ein allgemeines Problem.
Ein Problem, das selbst jüngere, männliche Mediziner noch nicht auf dem Schirm haben, wie es im Buch scheint. Wie kommt das?
Das war nur meine subjektive Erfahrung. Ich hatte besonders oft Pech mit jungen, männlichen Medizinern. Gendermedizin sollte flächendeckend und generell ein wichtiges Thema im Studium der Humanmedizin sein. Es sollte doch Pflicht sein, zu lernen, inwiefern Frauen sich von Männern in Diagnose und Therapie unterscheiden, schließlich machen sie die Hälfte aller Patient:innen aus.
"Das ist kein neuer Trend, der von Feministinnen entworfen wurde – diese Ungerechtigkeit schadet uns allen."
Was müsste denn konkret passieren, um diesen Mangel auszugleichen?
Als Erstes muss das Thema Gendermedizin und Diversität fester Bestandteil im Studium der Humanmedizin und auch in pflegerischen Berufen werden. Die Gesellschaft muss außerdem Awareness für dieses Problem entwickeln, dafür sind große Kampagnen durch Medien, Ministerien, meinetwegen auch die Pharmaindustrie wichtig.
Und auf Individualebene?
Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft versteht, dass das kein Nischenthema ist. Das ist kein neuer Trend, der von Feministinnen entworfen wurde – diese Ungerechtigkeit schadet uns allen, denn sie wirkt sich auf Personen in unserem Umfeld aus, die wir lieben, Ehefrauen, Mütter, Freundinnen und Schwestern. Dass alle Menschen medizinisch gerecht behandelt werden, müsste uns doch am Herzen liegen.