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Wahlrecht für Kinder? Verband fordert ein gerechtes Wahlsystem

The boy looks at the ballot paper in the ballot box in elections
Kinder an die Urne? Nicht ganz, aber zumindest sollen die Eltern ihre Stimme vertreten dürfen, fordert der Deutsche Familienverband.Bild: iStockphoto / Nenadpress
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Wie gerecht ist das deutsche Wahlsystem? Verband fordert Wahlrecht ab Geburt

17.08.2023, 08:09
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Sebastian Heimann ist Bundesgeschäftsführer beim Deutschen Familienverband. Dieser setzt sich dafür ein, dass Kinder ab Geburt ein Wahlrecht bekommen.

Minderjährige, ja sogar Kleinkinder, sollen wählen dürfen? Eine kontroverse Forderung.

Im Gespräch mit watson erklärt Heimann, wie ein Wahlrecht ab Geburt funktionieren kann und warum nur ein Wahlsystem gerecht ist, das Kinder inkludiert.

Portrait
Sebastian Heimann will, dass Kinder ein Wahlrecht haben.bild: privat

Watson: Herr Heimann, wie soll das mit Wahlrecht ab Geburt konkret funktionieren?

Sebastian Heimann: Die Eltern bekommen pro minderjährigem Kind ein zusätzliches Stimmrecht, bis die Kinder selber wählen wollen. Geschiedene müssen den Zettel gemeinsam ausfüllen oder jeder Elternteil bekommt eine halbe Stimme. Oder man geht danach, wer das Sorgerecht hat. Das sind wichtige Details, die geklärt werden müssen.

Wie reagieren die Leute darauf, wenn Sie ein Wahlrecht ab Geburt fordern?

Wir begegnen oft großem Unverständnis. Nach einem Radiointerview im Bayerischen Rundfunk habe ich mir die Kommentare auf der Webseite durchgelesen und es gab eine hohe Anzahl von Beleidigungen. Die AfD hat sogar ein Plakat mit meinem Namen veröffentlicht und ist mich persönlich angegangen. Ich sage immer: Wir können unterschiedlicher Meinung sein. Du bist dagegen, das sind deine Gründe. Ich bin dafür, das sind meine Gründe. Wenn wir nicht zueinander kommen, ist das auch okay. Wir leben in einer Demokratie. Eine Entscheidung ist immer ein Prozess des Aushandelns.

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Was sind Ihre Argumente in der Diskussion mit Kritiker:innen?

Vor mehr als 100 Jahren, also vor 1918, war es für viele Millionen Menschen völlig normal, dass Frauen nicht wählen können. Und früher war es sogar noch restriktiver. Man musste Grundbesitz nachweisen oder die richtige Konfession haben, um zu wählen. Also auch Männer hatten nicht immer ein freies Wahlrecht. Die Geschichte des Wahlrechts hat eine wesentliche Konstante: Mit der Zeit wird es liberaler – immer größere Gruppen können wählen, Altersgrenzen fallen weg. Im Jahr 1972 war die Wahlaltersgrenze bei 18 Jahren und die Volljährigkeit weiterhin bei 21. Tatsächlich durften in Deutschland auf einmal Minderjährige den Bundestag wählen.

"Es gibt 14 Millionen Kinder, die nicht wahlberechtigt sind."

Also wurden die Altersgrenzen bei der Wahl eigentlich schon immer willkürlich gesetzt? Es wurde nie wissenschaftlich ergründet, ob man nun mit 16, 18 oder 21 Jahren reif genug zum Wählen ist?

Absolut. Ganz oft kommt in Gesprächen irgendwann das Totschlag-Argument: Mit 18 ist man ja nicht reif. Was bedeutet aber geistige Reife? Der 17-Jährige ist unreif, aber ein paar Tage später ist er reif, wenn er 18 geworden ist? Ist der Hochschulprofessor geistig reif zu wählen, aber die Pflegekraft oder der Kunststudent nicht? Das Wahlrecht macht keine Unterscheidung nach Bildung, Herkunft oder Geschlecht. Und das ist gut so! Seit 2021 dürfen auch zum ersten Mal geistig behinderte Menschen wählen, die in allen Angelegenheiten einen Betreuer benötigen. Ich habe damals im Familienausschuss gefragt: "Wir wollen ein Wahlrecht ab Geburt und ihr fordert ein Wahlrecht für schwerst geistig Behinderte. Findet ihr es nicht unfair, dass der 17-Jährige nicht wählen darf, aber der geistig Behinderte schon?" Ich habe auf diese Frage von keiner Partei eine Antwort bekommen.

Werden Kinder in Deutschland also diskriminiert, weil sie nicht wählen dürfen?

Wir haben zumindest kein allgemeines Wahlrecht. Das gäbe es nur, wenn alle Bundesbürger mit eingeschlossen wären. Ich habe damals zum Vorsitzenden des Familienausschusses in etwa gesagt: "Bei allem Respekt, aber Sie vertreten als Abgeordneter nicht alle deutschen Bundesbürger, sondern nur die Volljährigen, die das Stimmrecht haben." Es gibt immer noch 14 Millionen Kinder, die nicht wahlberechtigt sind. Auch nicht in Stellvertretung. Sie können sich vorstellen, dass das einen kleinen Eklat ausgelöst hatte. Ein kurzes Gedankenexperiment.

People vote in a voting booth at a polling station.
Mit einer zusätzlichen Stimme pro Kind könnten die Interessen von Kindern und Familien gestärkt werden.Bild: iStockphoto / bizoo_n

Sehr gerne.

Stellen Sie sich vor, Sie haben auf der einen Seite ein kinderloses Paar: Zwei Personen, zwei Stimmen. Dann haben Sie auf der anderen Seite zwei Eltern und vier Kinder. Nach jetzigem Stand haben beide Gruppen jeweils zwei Wahlrechtsstimmen. Ist das wirklich fair? Dass zwei Kinderlose das gleiche Gewicht haben wie eine sechsköpfige Familie? In jeder anderen Konstellation würde das als ungerecht bewertet werden.

Würden mit dem Wahlrecht ab Geburt die Interessen von Familien und Kindern stärker berücksichtigt?

Die Corona-Pandemie war das beste Beispiel dafür, welchen Stellenwert Familien tatsächlich haben. Von Familien wurde unglaublich viel erwartet. Wir hatten damals ein Gespräch mit der Bundeskanzlerin und haben genau das kritisiert. "Ihr macht einen Auto-Gipfel, Industrie-Gipfel, Corona-Gipfel, aber es gab nie einen Familien-Gipfel." Sie meinte dann, man könnte sich das einmal überlegen. Doch es kam nie etwas zurück.

Wissen Sie, warum?

Wir haben aus dem Flurfunk des Bundeskanzleramtes mitbekommen, dass gesagt worden ist: "Wenn wir den Familien jetzt einen Gipfel zugestehen, dann kommt noch dieser und jener Verband zu uns und die und jene Gruppe. Wo soll das alles hinführen?" Das war eine große Enttäuschung, denn ohne Familie funktioniert nichts. Die Familie ist der Kern aller Gemeinschaft und des Staates.

Tatsächlich dürfen auch sehr alte Menschen wählen, bei denen man nicht immer weiß, ob sie noch dazu fähig sind.

Ein 90-Jähriger trifft eine Wahlentscheidung, die mindestens vier für den Bund oder auf Landesebene fünf Jahre in die Zukunft trägt. Er trifft vielleicht eine Wahlentscheidung, die einem 17-Jährigen länger anlastet als ihn selbst. Bestes Beispiel war der Brexit. Wenn man sich das Wahlalter angeschaut hat, so waren die jungen Erwachsenen pro EU, die Alten stimmten eher für den Brexit. Wie wäre die Abstimmung gelaufen, wenn die 15- oder 16-Jährigen mit abstimmen hätten können?

"Wenn es an den eigenen Geldbeutel geht (…), ist der Zusammenhalt oftmals schnell an seinem Ende."

Durch die Überalterung wird das Ungleichgewicht zwischen Jung und Alt immer größer ...

Wenn es so weitergeht, haben wir irgendwann japanische Zustände. Also ein Land, in dem mehr Windeln für alte Menschen verkauft werden als für Kinder. Natürlich haben viele Rentner das Bedürfnis, Kindern zu helfen und für sie eine gute Zukunft mitzudenken. Wenn es aber beispielsweise an den eigenen Geldbeutel geht – und ich meine hier alle –, ist der Zusammenhalt oftmals schnell an seinem Ende.

Wirklich?

Als unser Verband die Debatte um eine familiengerechte Sozialversicherung in die Öffentlichkeit brachte, kam die Frage auf, ob Kinderlose mehr zahlen sollten als Eltern und Kinder, obwohl nur die Letzteren den Generationenvertrag einhalten. Kinderlose sind zum größten Teil Nutznießer der Leistungen, die Familien in der Renten-, Pflege- und Krankenversicherung erbringen. Auf unsere berechtigten Forderungen kam ein Shitstorm par excellence. Schnell war die Solidarität sehr vieler Kinderloser mit Familien zu Ende.

Was ist, wenn Menschen das Wahlrecht ab Geburt ausnutzen, um mit mehr Kindern mehr Stimmen für die eigene Agenda zu haben?

Fragen Sie mal bei einer Veranstaltung nach: Wer von den Eltern handelt zum Wohl seiner eigenen Kinder? Ich wette, mindestens 95 Prozent strecken die Hand in die Höhe. Die anderen 5 Prozent werden die Frage nicht gehört haben. Die Eltern wollen immer das Beste für das Kind. Das kann individuell ganz unterschiedlich sein, aber das können die Familien immer besser einschätzen als jemand von außen. Es kann sein, dass die Familie sagt: In unserer Konstellation sehen wir die beste politische Lösung, wenn wir die SPD wählen. Die andere Familie wählt eher CDU. Und das ist auch völlig in Ordnung so. Der Wesensgehalt der Demokratie ist es, dass wir als Wähler bewusst eine Idee oder Agenda verfolgen oder unterstützen können. Das ist unsere Freiheit.

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