Realität am Hilfetelefon: Die politische Lage macht Frauen "extrem Angst"
Alina Kuhl setzt sich seit vielen Jahren im Bereich von Schutz für Frauen ein. Sie ist nicht nur ehrenamtlich an Hilfetelefonen aktiv, sondern hat auch unter anderem als Datenanalystin für eine NGO gearbeitet, die sich gegen häusliche Gewalt einsetzt.
watson: Im November gibt es gleich zwei Männertage – den Weltmännertag am 3. November und den internationalen Männertag am 19. November. Dem gegenüber steht ein Tag gegen Gewalt an Frauen. Spiegelt das unsere Gesellschaft wider?
Alina: Ja, total. Ich lese an solchen Tagen immer wieder Kommentare wie: "Und was ist mit Gewalt gegen Männer?" – aber es gibt eben nur deshalb so viele Studien und Hilfsangebote für Frauen, weil Frauen sie selbst erkämpft haben. Männer könnten ihre Tage ja nutzen, um über Gewalt gegen Männer zu sprechen – meistens passiert das aber nicht. Stattdessen wird am 25. November, dem Tag gegen Gewalt an Frauen, die Debatte umgelenkt. Gleichzeitig sehe ich kaum Männer, die mit uns gegen patriarchale Gewalt auf die Straße gehen.
Stichwort Patriarchale Gewalt: Eine Studie des Europäischen Institutes für Gleichstellungsfragen zeigt, dass Gewalt gegen Frauen den Staat jährlich bis zu 54 Milliarden Euro kostet. Gleichzeitig fließen nur rund 270 Millionen in Hilfsangebote.
Das ist fatal – und wirtschaftlich unsinnig. Jeder Euro in Prävention spart später enorme Folgekosten. Als ich in England bei Women’s Aid gearbeitet habe, haben wir das klar belegt: Frühzeitige Hilfe rettet Leben und spart Geld. In Deutschland hingegen werden Budgets gestrichen. Wir können es uns aber schlicht nicht leisten, Gewalthilfe zu streichen – weder finanziell noch gesellschaftlich. Und wir dürfen nicht vergessen: Viele Einrichtungen unterstützen nicht nur Frauen, sondern auch FLINTA-Personen – also trans*, inter* und nicht-binäre Menschen, die ebenfalls von patriarchaler Gewalt betroffen sind. Diese Arbeit rettet Leben.
In Berlin steht aktuell im Raum, dass Gelder für Gewalthilfen um zwei Prozent gekürzt werden.
Das klingt wenig, ist aber enorm. Für manche Einrichtungen bedeutet das 400 Euro, für andere bis zu 40.000 Euro weniger. Besonders kleinere Projekte trifft das hart: Da kann eine ganze Beratungsstelle wegbrechen. Ich habe deswegen eine Petition initiiert, die sich unter anderem an Kai Wegner, den regierenden Bürgermeister von Berlin, richtet, um die Kürzungen zurückzunehmen. Schon jetzt werden Frauen abgewiesen, weil kein Platz im Frauenhaus frei ist oder Beratungsstellen überlastet sind. Ich arbeite seit Jahren ehrenamtlich bei einem Frauenhilfetelefon und sehe: Ohne Ehrenamtliche würde das ganze System zusammenbrechen. Das ist untragbar, denn diese Arbeit ist extrem belastend.
Du hast gerade die Hilfetelefone angesprochen. Hat sich über die Jahre thematisch etwas verändert? Reden die Frauen heute über andere Dinge als früher?
Ja, das merkt man deutlich. Politik war früher selten Thema, das hat sich geändert. Ich habe schon an verschiedenen Hilfetelefonen gearbeitet, und man merkt bestimmte Entwicklungen. Zum Beispiel: Als "Gaslighting" plötzlich überall in den Medien war, wurde das häufiger am Telefon erwähnt.
Wie ist die Lage aktuell?
Heute ist Politik sehr präsent – viele Frauen haben Angst vor den Kürzungsdebatten, ob beim Gewaltschutz oder beim Bürgergeld. Diese Diskussionen verunsichern sie zutiefst. Viele meiner Gesprächspartnerinnen sind komplex traumatisiert und auf Unterstützung angewiesen. Wenn sie dann hören, dass Gelder gestrichen werden sollen, macht ihnen das enorme Angst.
Das muss auch unglaublich belastend sein – wenn man Gewalt erlebt und gleichzeitig sieht, wie die Hilfe, die man so dringend braucht, Stück für Stück verschwindet.
Ja, das sagen viele Frauen. Es fühlt sich an, als würde einem der letzte Strohhalm abgeschnitten. Dabei wäre es so wichtig, früh zu investieren, damit sich Traumata gar nicht erst verfestigen. Ich spreche mit Frauen, die inzwischen in Rente sind und ihr ganzes Leben lang kaum Unterstützung bekommen haben. Diese Folgen sind lebenslang spürbar. Und trotzdem diskutieren wir 2025 noch darüber, ob wir überhaupt helfen sollten – das ist bitter.
Andere Länder setzen stärker auf Prävention. England bietet mittlerweile Aufklärungskurse an Schulen zu Misogynie und toxischer Männlichkeit. Braucht es das auch hier?
Unbedingt. Misogynes Verhalten beginnt früh. England ist Deutschland da voraus: Dort gibt es Unterricht zu "Healthy Relationships", oft als Reaktion auf Figuren wie Andrew Tate. In Deutschland stecken wir noch in alten Mustern – ein Beispiel ist dieser Satz, den man schon im Kindergarten hört: "Wenn er dich ärgert, mag er dich." Gleichzeitig sickern Incel-Ideologien längst in den Mainstream ein, bis in Reality-Formate. Das ist gefährlich. Wir brauchen dringend mehr Aufklärung.
Ein weiterer Punkt, in dem andere Länder uns voraus sind, ist das Sexualstrafrecht: Deutschland hat "Nein heißt Nein", andere Länder "Nur Ja heißt Ja". Kannst du einmal den Unterschied erklären?
Bei "Nur Ja heißt Ja" braucht es aktive Zustimmung – ein Ja, ein Nicken, ein klares Signal. In Deutschland muss man aktiv Nein sagen. Das macht es schwierig, wenn jemand Angst hat, in Schockstarre fällt oder bewusstlos ist. Ich verstehe nicht, warum wir dieses Modell nicht längst haben. Andere Länder zeigen, dass es funktioniert. Bitter ist, dass die EU-Richtlinie zu Gewalt gegen Frauen den Straftatbestand Vergewaltigung gar nicht mehr enthält – auch, weil Deutschland diese blockiert hat. Das ist ein Armutszeugnis.
Das wirkt ja fast schon zynisch – man gibt sich nach außen frauenpolitisch engagiert, aber wenn man genauer hinschaut, passiert realpolitisch fast nichts?
Ja, das ist sehr ernüchternd. Ich habe fünfeinhalb Jahre im Bundesfamilienministerium gearbeitet – mit der Hoffnung, dort wirklich etwas bewegen zu können. Aber irgendwann musste ich mir eingestehen: Es passiert viel zu wenig. Es war wirklich ein Bruchmoment, zu sehen, dass selbst das Ministerium, das offiziell für den Schutz von Frauen zuständig ist, es nicht schafft, sich klar durchzusetzen, wenn es um so zentrale Dinge wie den Vergewaltigungsstraftatbestand in der EU-Richtlinie geht.
Was müsste sich ändern?
Wir müssen aufhören, über Frauen zu sprechen, und anfangen, ihnen zuzuhören. Ob beim Strafrecht, bei Prävention oder bei Sexarbeit – die Betroffenen wissen am besten, was sie brauchen. Solange wir ihnen diese Mitsprache verwehren und Schutzstrukturen abbauen, wird sich nichts ändern.
