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Wegen Angst auf dem Nachhauseweg: "Immer mehr Männer rufen beim Heimwegtelefon an"

Der einsame Weg nach Hause im Dunkeln macht vielen Menschen Angst – gut, dass es das Heimwegtelefon gibt.
Der einsame Weg nach Hause im Dunkeln macht vielen Menschen Angst – gut, dass es das Heimwegtelefon gibt.Bild: Image Source Wonwoo Lee
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Angst auf dem Nachhauseweg: "Immer mehr Männer rufen beim Heimwegtelefon an"

28.01.2020, 15:44
Jana Schütt
Jana Schütt
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Gerade eben warst du noch in der überfüllten Bar, alles war voller Menschen – und kaum bist du auf dem Heimweg, wird es plötzlich still. Die Straßen sind leer, kaum beleuchtet und in dir steigt ein mulmiges Gefühl auf. Das ist nicht ungewöhnlich: Allein unterwegs sein kann unheimlich sein, egal ob beim Spazieren im Wald, Warten auf den Nachtbus oder auf dem Weg zur WG entlang schummriger Ecken.

Genau für solche Situationen wurde 2013 in Deutschland das Heimwegtelefon gegründet. Eine Hotline, bei der du anrufen kannst, wenn du abends allein unterwegs bist und gerne jemandem zum reden hättest. Jemanden, der dir das Unwohlsein nimmt, indem er dir für ein paar Minuten sein Ohr schenkt. Möglich machen das Ehrenamtliche wie Conny.

Im Interview mit watson gibt sie Einblicke in ihre dreijährige Arbeit beim Heimwegtelefon. Sie erzählt von bewegenden Anrufen und erklärt, worin der Unterschied zwischen Telefonaten mit Frauen und Männern liegen – denn ja, auch die rufen häufig an.

Watson: Conny, beim Heimwegtelefon leistest du Menschen Beistand, die sich unterwegs alleine unwohl fühlen. Gerade jetzt in der dunklen Jahreszeit gibt es sicherlich viele Anrufe, oder?

Conny: Wir haben immer viele Anrufer aber ja, vor allem im Winter ist einiges los. Wenn es morgens und abends dunkel ist, fühlen sich die Menschen unsicherer als im Sommer. Wir weiten unsere regulären Telefonzeiten deshalb zeitweise aus. Erreichbar sind wir freitags und samstags von 22 bis 4 Uhr und den Rest der Woche von 20 bis 24 Uhr – toll wäre es, den Service auch darüberhinaus anzubieten.

Den meisten ist das Heimwegtelefon kein Begriff. Wie bist du ausgerechnet zu diesem Ehrenamt gekommen?

Ich wollte schon länger ein Ehrenamt neben meinem Beruf als Kaufmännische Leiterin auszuüben. Ich hatte das Bedürfnis, etwas zurück zu geben. Ich bin auf das Heimwegtelefon gestoßen und die Idee hat mich direkt begeistert. Ich hätte mir gewünscht, dass es so etwas auch schon in meiner Jugend gegeben hätte.

Weil du als junge Frau selbst Angst hattest, wenn du alleine unterwegs warst?

Nein, ich hatte keine Angst – aber meine Eltern. Sie haben sich stets Sorgen gemacht, wenn ich unterwegs war und mich von überall abgeholt. Hätte es das Heimwegtelefon gegeben, hätten sie weniger Angst haben müssen. Deshalb freut es mich, das Projekt heute zu unterstützen. Außerdem lerne viel durch das Telefonieren – Smalltalk zum Beispiel, das fiel mir immer schwer. Mittlerweile kann ich Gespräche am Laufen halten, selbst wenn der andere nur mit Ja oder Nein antwortet.

Du bist mittlerweile seit drei Jahren beim Heimwegtelefon – kannst du dich noch an deinen ersten Anruf erinnern?

Sehr gut sogar, das Telefonat war lustig. Es war eine Frau, die schon seit langer Zeit regelmäßig beim Heimwegtelefon anrief. Sie fand es amüsant, mit einem Neuling zu telefonieren. Sie erzählte mir vieles über das Heimwegtelefon und ihre Erfahrungen. Ich glaube, bei dem Anruf haben wir uns gegenseitig unsere Ängste genommen.

Es gibt also Leute, die regelmäßig bei euch anrufen?

Die meisten Anrufe sind einmalig und situativ, wenn sich Menschen unwohl fühlen. Rush Hour ist in unserer Leitung meist freitags um 23 Uhr, wenn sich viele auf den Rückweg von einer Verabredung machen. Doch wir haben auch einige, die sich regelmäßig melden. Eine Frau ruft zum Beispiel immer an, wenn sie mit ihrem Hund im Wald spazieren geht. Phobiker rufen uns teilweise über mehrere Jahre regelmäßig an, wenn sie Angst unter Menschen und in fremden Umgebungen bekommen. Andere rufen uns an, weil sie Zuhause einsam sind. Sollte niemand sonst in der Leitung sein, plaudere ich mit denen. Aber der typische Anruf sieht anders aus.

Wie kann man sich den typischen Anruf denn vorstellen?

Unsere erste Frage lautet: "Haben Sie schon einmal bei uns angerufen?" Dann können wir die Person in unserer Datenbank finden. Ist es das erste Mal, müssen wir den Datenschutz klären. Denn der Anrufer teilt uns sensible Daten wie Standort und Ziel mit, das meist das Zuhause ist. Ist der rechtliche Part geklärt, geben wir Standort und Ziel bei Google Maps ein und verfolgen die Route. Jedes Mal, wenn er die Straße wechselt, nennt er uns den neuen Namen.

Und worüber redet ihr dann?

Über alles Mögliche – Wetter, Beruf, Karriere, Kinder oder was dem anderen sonst auf dem Herzen liegt. Manche Gespräche sind so schön, dass ich fast etwas traurig bin, wenn sie enden.

In deinen bisherigen Erzählungen klang es so, als sei die Mehrheit der Anrufer junge Frauen, die Angst haben. Stimmt das?

Unsere Anrufer sind vom Alter und Geschlecht durchmischt. Natürlich haben wir sehr viele weibliche Anrufer, die sich alleine unwohl fühlen. Doch was man nicht direkt vermutet: Immer mehr Männer rufen an. Rund 20 Prozent der Telefonate führen wir derzeit mit Männern, die sich an uns wenden. Doch die Gespräche mit Männern und Frauen unterscheiden sich teilweise stark.

Okay, das musst du genauer erklären.

Frauen sprechen offener über ihre Gefühle und merken meist direkt an, dass sie Angst haben. Viele Männer hingegen sagen, dass sie aus Spaß oder Langeweile anrufen. Dann gilt es herauszufinden, ob es wirklich ein Fake-Anruf ist oder es nur Vorwände sind, um die eigene Angst nicht zuzugeben.

Woran liegt das?

Es fällt Männern deutlich schwerer, über ihr Unwohlsein zu sprechen. Manche fühlen sich angegriffen und werden aggressiv, wenn sie denken, ich unterstelle ihnen Angst. Bei männlichen Anrufern muss ich sensibler vorgehen, denn sie dürfen nicht das Gefühl haben, schwach zu sein. Nach wie vor ist Angst eine Emotion, die bei Frauen gesellschaftlich akzeptiert ist und bei Männern nicht.

Was glaubst du, woher diese Unterschiede kommen?

Ich denke, der Ursprung liegt in der Kindheit. Wir erziehen Jungs dazu, hart zu sein und keine Schwäche zu zeigen. Bereits in Prügeleien auf dem Schulhof heißt es, seinen Mann zu stehen. Wer weg läuft, gilt als feige. Mädchen werden hingegen meist dazu erzogen, zurückhaltend, umsorgend, brav und kontrolliert zu sein. Ihnen wird beigebracht, dass die Welt für sie eine Gefahr ist, vor der sie sich schützen müssen. Wir müssen grundlegend etwas an der Sozialisation von Jungen und Mädchen ändern.

Und bei den Anrufern merkst du, dass sich diese Unterschiede in der Erziehung bis ins Erwachsenenalter tragen?

Wie gesagt, Männer verstecken ihre Angst oft hinter Ausreden und würden diese niemals zugeben. Oft bin ich die einzige, die am Telefon davon erfährt. Männer rufen oft erst dann an, wenn sie eine ernste Bedrohung, meist durch andere Männer, wahrnehmen. Bei Frauen merke ich, dass sie grundsätzlich mehr Angst haben, dass ihnen etwas passieren könnte – auch wenn keine aktive Gefahr besteht. Frauen fühlen sich einen großen Teil der Zeit unwohl und gehen vorsichtiger sowie ängstlicher durch die Welt.

Wie kann den Frauen die Angst genommen werden?

Ich rate Frauen, einen Selbstverteidigungskurs zu belegen. Es sollte mehr in die Prävention investiert werden, um Frauen ein sicheres Gefühl zu geben. Wer sich stark fühlt, kann in brenzligen Situationen selbstbewusster auftreten, was oft ausreicht, um jemanden abzuschrecken. Außerdem rate ich Frauen davon ab, Pfefferspray bei sich zu tragen, wenn sie es noch nie ausprobiert haben. Dann ist es im Zweifelsfall eine Waffe gegen sie selbst.

Das klingt, als würde überall Gefahr lauern, vor der wir uns schützen müssen? Oder ist die Angst oft auch übertrieben?

Niemand sollte ständig Panik haben, wenn er sich draußen bewegt. Dazu gibt es keinen Anlass, denn meist trügt das Gefühl, es bestünde Gefahr. Doch auch wenn draußen keine reale Bedrohung lauert, hilft es, mit jemandem zu reden. In meinen drei Jahren Ehrenamt kam es nur dreimal vor, dass wir die Polizei einschalteten. Diese Fälle trugen sich meist nicht unterwegs, sondern im häuslichen Kontext zu. Das sind die wirklich harten Anrufe.

Kannst du dich noch ein deinen härtesten Anruf erinnern?

Sehr gut sogar. Es war eine junge Frau, die sich im Bad eingeschlossen hatte. Ihr Mann stand vor der Tür und drohte, sie umzubringen. Das war hart. Ich habe mit einem Zweittelefon die Polizei gerufen und bis zu ihrem Eintreffen die Frau beruhigt. Ich rate Frauen, die häusliche Gewalt erfahren, allerdings ab, bei uns anzurufen.

Warum das?

Minuten können über Leben und Tod entscheiden. Sie sollten direkt bei der Polizei anrufen. Oft sind die Hemmungen groß und sie haben Angst, ihren Mann der Polizei auszuliefern. Wenn er wieder nach Hause kommt, könnte er sich rächen. Außerdem geben sich viele Frauen die Schuld, wenn sie Gewalt erfahren. Deshalb fällt ihnen leichter, im Notfall bei uns statt der Polizei anzurufen.

Das klingt, als wären es viele harte Anrufe, die du führst. Es gibt sicherlich auch schöne Momente, oder?

Klar, sehr viele! Mein schönstes Telefonat hatte ich mit einem Mann, der unter Phobien litt und Angst vor Menschen hatte. Über zwei Jahre haben wir telefoniert, wenn er unterwegs war. Eines Tages rief er an und sagte "Ich habe einen Job im Callcenter und dort den ganzen Tag mit Menschen zu tun". Solche Geschichten freuen mich: Wenn man jahrelang mit jemandem spricht und es wirklich hilft. Die Nachfrage ist da, auch wenn die Nächte bald wieder kürzer werden.

Das Heimwegtelefon erreichst du unter 030 120 74 182. Wenn du jetzt Lust hast, ehrenamtlicher Telefonist beim Heimwegtelefon e.V. zu werden oder das Projekt durch eine Spende zu unterstützen, findest du hier alle weiteren Informationen.
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