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Gewalt gegen Frauen: Umfrage sorgt für Debatte über Männer – Experte ordnet ein

50er Jahre Paar retro
Gelebter Gender Care Gap: Mann geht arbeiten, Frau bleibt Zuhause. Bild: getty / Image Source
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Die Illusion von Gleichberechtigung: Warum moderne Männer immer noch alte Rollenbilder leben

13.06.2023, 08:1713.06.2023, 10:26
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In Deutschland ist eine neue Debatte um das Welt- und Frauenbild von Männern entbrannt. Grund ist eine Erhebung vom Kinderhilfswerk Plan International Deutschland zum "Spannungsfeld Männlichkeit". Sie liest sich wie ein Auszug aus einer Straßenumfrage aus den 50er Jahren.

Mehr als ein Drittel der befragten Männer (34 Prozent) gibt an, gegenüber Frauen handgreiflich zu werden, um ihnen Respekt einzuflößen. Für jeden dritten Mann wäre es akzeptabel, wenn ihm bei einem Streit mit der Partnerin gelegentlich die Hand ausrutscht.

Viel Druck und kein Platz für Gefühle

Die repräsentative Umfrage (schriftliche Online-Befragung von 1.000 Männern sowie 1.000 Frauen im Alter von 18 bis 35 Jahren) enthüllt noch mehr: 51 Prozent der befragten Männer sind der Überzeugung, sie seien schwach und angreifbar, wenn sie Gefühle zeigen.

Mann und Frau streiten
Er muss immer das letzte Wort haben? Fast die Hälfte der Männer sieht das als wichtig an.bild: pexels / Vera Arsic

All das klingt erschreckend nach längst überkommenen Männerbildern – das sagte auch die stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende Andrea Lindholz gegenüber dem Sender "MDR": Staat und Gesellschaft müssten sich "mit der Entwicklung, Erziehung und Aufklärung junger Männer stärker befassen und neue präventive Konzepte entwickeln".

Nicht verschwiegen werden soll: An der Umfrage ist Kritik aufgekommen. Weil sie anderen fundierten Studienergebnissen deutlich widerspricht und weil die Fragen, die den Teilnehmern gestellt wurden, nicht veröffentlicht wurden. Weil man sich fragen muss, inwieweit eine Gruppe von Menschen wirklich repräsentativ für die deutsche Bevölkerung gewesen sein kann, die über Online-Banner, Newsletter oder Zeitungsanzeigen rekrutiert worden ist, ohne auf deren Persönlichkeitsmerkmale und Einstellungen einzugehen. Dies kritisiert die Statistikerin Sabine Zinn vom Institut der Deutschen Wirtschaft im Deutschlandfunk. Die Art der Teilnehmerrekrutierung führe dazu, dass sich vor allem Menschen mit hohem Mitteilungsbedürfnis melden würden – und das sei ein Persönlichkeitsmerkmal. Dies könne zu großen Verzerrungen führen.

Grund genug, mit einem Experten zu sprechen: Entwickeln sich junge Männer gerade zurück in die Rollen von gestern? Watson hat den Männerforscher, Berater und Dozent Christoph May gefragt, was mit den deutschen Männern schiefläuft und wie man gegensteuern könnte. Er hat 2016 gemeinsam mit der Schriftstellerin Stephanie May das Institut für Kritische Männerforschung gegründet.

Männlichkeitenforscher Christoph May
Christoph May hält Vorträge und gibt Workshops zu Toxischer Männlichkeit, Männerbünden und -bildern und kritischer Männlichkeit.bild: Hessischer Rundfunk / Simon Schäfer

Watson: Herr May, was ist bloß los mit den deutschen Männern?

Christoph May: Unsere Gesellschaft ist noch immer extrem männlich dominiert, in sämtlichen Lebensbereichen. Die meisten Jungs und Männer wachsen nach wie vor in Männerbünden auf. In der Männlichkeitenforschung sprechen wir hier auch von hegemonialer Männlichkeit oder einfach vom Patriarchat.

Welche Auswirkungen hat das auf Männer?

Männliche Monokulturen bringen verschiedene Phänomene in die Gesellschaft wie zum Beispiel alle Formen von Misogynie, also Frauenhass, Frauenfeindlichkeit, Femizide und Sexismus. Konservative und rechte Parteien sind allesamt männlich dominiert. Unser Medienkonsum – also Serien, Filme, Literatur und Sport – ist vorwiegend männlich. Verschwörungstheorien und Hate Speech kommen vor allem von Männern. Bis hin zu "Mansplaining", also wenn Männer uns ungefragt die Welt erklären.

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So zusammengefasst, hört sich das wirklich besorgniserregend an...

Für all diese Phänomene hat sich seit der MeToo-Debatte 2017 der Begriff "Toxische Männlichkeit" etabliert. Ein wunderbarer Terminus, um die Kritik an Männlichkeit zu beschleunigen. Toxische Männlichkeit und männliche Privilegien sind für die meisten Männer aber unsichtbar, weil wir Männer ja 24/7 davon profitieren. Das Hauptproblem ist also, dass Männer nicht in relevanter Zahl am feministischen Diskurs teilnehmen. Warum? Weil ihnen die Lebensrealität von Frauen und queeren Menschen nicht nur völlig fremd ist, sondern, wenn nötig, mit Gewalt ausgeschlossen werden muss, wie die Umfrage deutlich zeigt. Nicht wenige traditionelle Männer wollen besser heute als morgen wieder in die fünfziger Jahre zurück.

"Wenn Ihnen auf der Straße ein Vater mit einem Baby im Arm entgegenkommt, ist statistisch Sonntag."
Christoph May

Ist das nun ein Trend, der Sie überrascht?

Das überrascht mich keineswegs. Die strukturelle Gewalt von Männern sowie männlich dominierte Erzählungen und Männerbilder sind ja mein Forschungsschwerpunkt. In der Geschlechterforschung ist das hinreichend erforscht und wahrlich kein Geheimnis. Ich würde auch nicht von einem Trend sprechen in einem System, das politisch, kulturell und wirtschaftlich noch immer von Männern für Männer gebaut ist.

Mansplaining Junges Paar streitet Frau genervt
Klassisches Mansplaining: Der Mann erklärt, das Gegenüber (oft eine Frau) ist genervt.bild: pexels / timur weber

In Börsenunternehmen gibt es immerhin seit 2015 die verpflichtende Frauenquote, wir hatten eine Bundeskanzlerin... Es wird also schon besser für Frauen, oder?

Ich möchte Ihnen ein paar alarmierende Zahlen nennen: 91 Prozent der Gemeinden und Städte in Deutschland werden von Männern geführt. Wir haben mehr Bürgermeister, die mit Vornamen Thomas heißen, als insgesamt Bürgermeister:innen. 80 Prozent aller deutschen Unternehmen verzichten ganz auf weibliches Führungspersonal. Unsere Universitäten werden zu 75 Prozent von Männern geleitet, Regionalzeitungen zu 95 Prozent. Bei der Bundespolizei sind 84 Prozent Männer beschäftigt, bei der Bundeswehr sogar 88 Prozent. Von der katholischen Kirche bis Hollywood, von der Fifa bis zum DAX. Die meisten Männer sind natürlich fest davon überzeugt, dass wir bereits in einer gleichberechtigten Welt leben. Es ist absurd.

In Städten wie Berlin sieht man immer mehr Väter mit Babytrage. Und dann diese Umfrageergebnisse. Wie passt das zusammen?

Lassen Sie sich nicht von den wenigen Einzelfällen täuschen, die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Nicht einmal 2,5 Prozent aller Väter nehmen mehr als 12 Monate Elternzeit.

Statistisch gesehen immer noch ein (viel zu) seltener Anblick: Hausmann mit Baby in der Trage.
Statistisch gesehen immer noch ein (viel zu) seltener Anblick: Hausmann mit Baby in der Trage.Bild: Getty / Jupiterimages

Wie sieht es bei der Hausarbeit aus?

Der deutsche Gender Care Gap, also die Kluft bei der Haus- und Sorgearbeit, liegt aktuell bei 52 Prozent. Frauen müssen im Schnitt doppelt so viel Zeit für Kochen, Putzen, Wäsche, Einkaufen und Erziehung aufwenden wie Männer. Laut Gender Care Gap satte 87 Minuten. In Familien mit Kindern sogar zwei Stunden und 30 Minuten mehr als der Vater. Pro Tag wohlgemerkt und unentgeltlich – aufs Jahr gerechnet mehr als ein ganzer Monat also. Die unbezahlte Arbeit von Frauen liegt in Deutschland bei 825 Milliarden Euro. Das ist das Fundament, auf dem Männer Ihre Karrieren aufbauen und ernsthaft glauben, Sie hätten sich das alles selbst erarbeitet. Wenn Ihnen auf der Straße ein Vater mit einem Baby im Arm entgegenkommt, ist statistisch Sonntag.

Und wie bekommen wir bessere Männer?

Männer sollten sich selbstkritisch verhalten, überall durchzählen, den Männeranteil als Problem benennen und dafür sorgen, ihre Männerrunden aufzubrechen und hinter sich zu lassen. Ob im Freund:innenkreis, beim Teamtreffen mit den Kolleg:innen, beim Sport, in Kultur, Wirtschaft oder Politik.

"Gehen Sie mit Ihren Kindern nicht zum Männerfußball, sondern zu weiblichen und queeren Spielen."
Christoph May, Experte für kritische Männerforschung

Parallel dazu können Männer ihren Medienkonsum auf nicht-männlich umstellen, also bei Serien, Filmen, Musik und Literatur immer darauf achten, dass sie von Frauen und queeren Menschen produziert und umgesetzt wurde. Wenn Sie das ein paar Monate gemacht haben, wollen die meisten Männer auch gar nicht mehr zurück, weil sie merken, welchen kulturellen Reichtum sie bisher verpasst haben.

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Was noch?

Und drittens müssen sich Männer für die Rechte von Frauen, inter, trans und non-binary Personen engagieren. Sie können zum Beispiel zu Ihrer Gleichstellungsbeauftragten gehen und sich aktiv für Frauen und queere Menschen in ihrem Unternehmen oder ihrem Umfeld einsetzen. Gehen Sie mit Ihren Kindern nicht zum Männerfußball, sondern zu weiblichen und queeren Spielen. Und leben Sie ihnen vor, wie man als Vater die Hausarbeit schmeißt und bedingungslos die Karriere der Partnerin unterstützt.

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