Leben
Mama-Kolumne

Mutter erzählt: Von wegen Geschwisterliebe – die Realität sieht anders aus

Für unsere Autorin ist klar: Geschwisterliebe ist ein romantisiertes Konzept.
Für unsere Autorin ist klar: Geschwisterliebe ist ein romantisiertes Konzept.getty/halfpoint
Mama-Kolumne

Mutter erzählt: Von wegen Geschwisterliebe – die Realität sieht anders aus

Mehr «Leben»
"Schonungslos ehrlich" – die Mama-Kolumne ohne Insta-Filter
10.07.2022, 12:3009.01.2023, 12:07

Wer diese Kolumne schon länger liest, weiß: Ein zweites Kind bekam ich nicht, weil ich das Konzept Großfamilie erstrebenswert finde. Oder weil ich auf ein Mädchen gehofft hatte. Ganz im Gegenteil: Nach meinem Highneed-Baby schloss ich ein weiteres Kind lange Zeit kategorisch aus.

Der einzige Grund, weshalb ich drei Jahre später überhaupt die Vorstellung zuließ, noch mal schwanger zu werden, war, dass ich mir für meinen Sohn ein Geschwisterkind wünschte, jemanden, der im besten Fall sein Leben lang an seiner Seite wäre – auch dann, wenn wir Eltern nicht mehr lebten.

Dass diese Idee oft nur Wunschdenken ist, weiß ich inzwischen aus vielen Erzählungen sowie aus meiner eigenen Familie. Der Kontakt meines Mannes zu einem seiner Brüder, der immer sehr eng war, ist seit ein paar Jahren nach einer tiefgreifenden Meinungsverschiedenheit abgebrochen.

Bild
Unsere Autorin
...wurde mit Anfang 30 Mutter. Und kommt noch immer nicht damit klar, dass ihr altes, schönes Leben seitdem vorbei ist. Sie ist wütend, dass Eltern nie den Mut hatten, zu erzählen, was es wirklich bedeutet, ein Kind zu haben. Aus diesem Grund legt sie alle zwei Wochen den Finger in die Wunde – und berichtet schonungslos. Und weil sie weiß, dass Mütter sehr giftig werden können, wenn es um ihr Heiligstes geht, bleibt sie lieber anonym. Die täglichen Entrüstungsstürme ihres Sohnes reichen ihr völlig aus.
"Besonders die Geschichten einer Freundin ließen mich aufs Schlimmste gefasst sein."

Trotzdem habe ich es gewagt, in der Hoffnung, dass diese Zweierverbindung ein Leben lang halten wird. Dass die Anfangszeit für den Erstgeborenen, und somit auch für uns, hart werden würde, davor warnte mich jeder. Besonders die Geschichten einer Freundin ließen mich aufs Schlimmste gefasst sein: Ihr Sohn verdrehte seiner kleinen Schwester den Arm, sprang auf sie, als sie einen kurzen Moment unbeobachtet auf dem Boden lag und hing brüllend am Bein seiner Mutter, während sie die Kleine im Stehen stillte, um sie zu schützen.

Während ich täglich darauf wartete, dass mein Sohn verhaltensauffällig wurde oder sich negativ gegenüber seiner kleinen Schwester äußerte, passierte sechs Monate lang das Gegenteil. Er fand sie toll und behandelte sie, als wäre sie ihm ebenbürtig. Ärgerte er sich über mich, suchte er Trost bei ihr und verbündete sich mit ihr. Er störte sich nicht daran, dass durchgängig ein Kind an meiner Brust hing und er war überraschend geduldig, wenn er doch mal kurz warten musste.

Vor ein paar Wochen machte es dann peng. Er wurde schnell aggressiv, heulte bei Kleinigkeiten, fing an mich zu provozieren, zerstörte bewusst Dinge, beschimpfte seine Schwester und machte es zu seinem Lieblingsspiel, das Baby immer haarscharf nicht zu verletzen.

"Braucht sie mehr Aufmerksamkeit, bekommt er weniger. Und das lässt er mich spüren."

Ich bin überzeugt davon, dass es daran liegt, dass die Kleine inzwischen aufgewacht ist. Sie hält nur noch Powernaps, fordert körperliche Präsenz von mir und benötigt Zuwendung – beim Brei füttern oder Spielen. Braucht sie mehr Aufmerksamkeit, bekommt er weniger. Und das lässt er mich spüren. Natürlich nicht, in dem er deutlich formulieren würde, dass er das Gefühl hat, zu kurz zu kommen. Stattdessen reagiert er mit Aggression und Wut.

An einem dieser Abende, der mit Gebrüll endete und auch davor kein Stück angenehmer war, bestellte ich mir das Buch "Geschwister als Team" von Nicola Schmidt. In der größten Verzweiflung hoffe ich jedes Mal wieder, den ultimativen Tipp in einem Buch zu finden.

Selbstverständlich liefert auch dieser Ratgeber kein Wundermittel. Die Autorin schafft es sogar kurzfristig, den Druck noch etwas zu erhöhen: "Die Kinder und ihre Beziehung sind in den ersten 24 Monaten unser Fokus. Wir legen hier das Fundament für eine achtzig bis hundert Jahre währende Beziehung!“ Jup.

Doch ich lerne einiges darüber, warum sich Geschwisterkinder entsprechend verhalten. Und manchmal hilft schon das Hintergrundwissen wie man Emotionen einordnen muss, um sie besser auszuhalten. Nicola Schmidt wirft einen Blick in die Evolutionsgeschichte und schnell wird deutlich: Vor allem bei Nahrungsknappheit war die Geburt eines Geschwisterchens ein lebensbedrohliches Ereignis.

"Sind Kinder zu klein, um ihre Bedürfnisse zu formulieren, kann das unbewusste Gefühl eines ungestillten Bedürfnisses bleiben."

Interessant finde ich ihre Theorie, weshalb ein Altersabstand unter drei Jahren noch heute schwierig sein kann: "Ein zweijähriges Kind hängt noch sehr von der Bindung zur Mutter ab. Erst ab dem dritten Geburtstag lösen sich die Kinder – Mädchen oft früher, Jungen gern auch später." Sind Kinder zu klein, um ihre Bedürfnisse zu formulieren, kann das unbewusste Gefühl eines ungestillten Bedürfnisses bleiben.

Schmidt zitiert die amerikanische Psychologin Dr. Laura Markham, die zu Bedenken gibt, dass unerfüllte Bedürfnisse und das ständige Warten des älteren Kleinkinds Auswirkungen auf seinen Selbstwert und die Vertrauenswürdigkeit von anderen haben: "Bin ich es wert, dass man auf mich achtet, bin ich wichtig?"

Wow. Mir war nicht bewusst, dass ich mit einem Geschwisterkind meinem Sohn nicht nur etwas Gutes tun könnte, sondern auch seine Persönlichkeit negativ präge, wenn ich nicht in der Lage bin, ihm ebenfalls gerecht zu werden.

Laut Ratgeber mache ich alles falsch

Zwar ist unser Vier-Jahres-Abstand sicher groß, trotzdem ist er noch ein Kleinkind, das seinen Frust lautstark kundtut. Ich muss sein Verhalten nur übersetzen können, was ziemlich anstrengend ist. Das Parkett mit einem Meisel bewusst zerkratzen heißt dann also: Du hast jetzt gefüttert, gestillt und gewickelt. Jetzt lies mir endlich das Buch vor, das ich bereits vor einer halben Stunde herausgesucht habe. Inzwischen werde nicht nur ich als "Kack-Mama" beschimpft, sondern auch die kleine Schwester als "blöde X" bezeichnet.

Laut Ratgeber reagiere ich natürlich genau falsch: Ich sage, dass ich das nicht möchte, dass sie nicht blöd sei und frage ihn wie er es fände, wenn ich ihn als blöden Y bezeichnen würde. Richtig wäre: Ruhig und empathisch reagieren – das Mantra der guten Mutter. Und dann: Nicht die negativen Gefühle des Kindes wegdrängen, sondern ihn lernen lassen, damit umzugehen.

Hieße für mich: So fühlst du dich? Du bist verletzt, ich höre das. Hast du das Gefühl, wir haben zu wenig Zeit für dich? Das kann ich verstehen. Das wird vorbeigehen, im Moment ist es wirklich schwierig. Komm in meine Arme, es tut mir leid, dass du dich so fühlst. Und dann natürlich beteuern, wie sehr man das Kind liebt.

Ach ja, wenn es immer so einfach wäre, nachdem ich den Parkettschaden auf circa 2000 Euro schätze. Da bleibt nur komplett abschleifen übrig, ich habe den Parkettleger schon im Ohr.

Warum wir unsere Trigger selten kennen – und das Wort dennoch zu oft verwenden

Manchmal braucht es nur einen bestimmten Tonfall oder eine Geste, um einen wahren Sturm der Gefühle auszulösen, der uns wie ein Hurrikan mitreißt und jede Vernunft auf dem Weg niedermäht wie Ferienhäuser in Florida.

Zur Story