"Game of Thrones" ist für mich die beste Serie, die es gibt. Und das, obwohl ich innerhalb der letzten paar Wochen Artikel mit den Titeln "Warum mir inzwischen egal ist, wer von diesen Idioten den Thron erobert" und "R.I.P., 'GoT': Wie die Rechtfertigungen der Serien-Macher alles nur verschlimmern" verfasst habe.
Denn Fakt ist: "Game of Thrones" hat mehr zu bieten als nur diese achte Staffel, für die HBO und Konsorten gerade so viel Kritik einstecken wie nie zuvor. Zwar mag es sich momentan nicht so anfühlen, aber: "Game of Thrones" war mal gut. Großartig sogar. Lasst mich eure gebrochenen Herzen mit schönen Erinnerungen wieder zusammenkleben...
Zugegeben: Zu Beginn der ersten Staffel war es für diejenigen, die George R. R. Martins Bücher nicht gelesen hatten, erst einmal für einige Folgen lang sehr verwirrend. Wo war Winterfell? Und wo trieb sich diese Daenerys rum? Wieso sah es da so anders aus, und was war bitte die "Meerenge"?
Ja, die meisten Serien, die wir sonst so serviert bekommen, haben nur einen einzigen Schauplatz: Eine Stadt, in der alle Charaktere zwar von A nach B nach Z reisen, aber eben doch geografisch nicht allzu weit voneinander entfernt sind. "Game of Thrones" ging da einen anderen Weg und streckte seine Handlung nicht nur über Städte hinweg, sondern Länder – Kontinente. Mit völlig unterschiedlichen architektonischen Stilen, klimatischen Bedingungen, Kulturen, Völkern, Religionen, Sprachen.
"Game of Thrones" knallte uns schon in seiner ersten Staffel nicht nur 19 (!) Hauptcharaktere vor die Nase – dazu gleich mehr –, sondern auch sechs verschiedene Regionen, in denen diese Charaktere aufeinandertrafen. Und keine von ihnen fühlte sich so an, als sei da mal eben was in einer Ecke vom Studiogelände zusammengeschustert worden; stattdessen reisten Cast und Crew um die Welt, drehten in Irland und Kroatien und erschufen zusätzlich noch großartige Sets wie den Thronsaal in Königsmund und die Zeltdörfer der Dothraki. Man merkt bis heute: Es floss nicht nur viel Geld in die Konstruktion dieser fiktiven Welt, sondern vor allem auch eine enorme Leidenschaft.
Und dieses Gefühl endet nicht mit den Sets und Locations. Wer bekam keine Gänsehaut, als Daenerys' Drachen digital zum Leben erweckt wurden? Wer verspürte keine Platzangst, als Jon im Kampf gegen die Bolton-Armee von Tausenden Männern erdrückt zu werden schien? "Game of Thrones" hatte nie ein kleines Budget, sicher, aber die Menschen dahinter wussten es immer so gekonnt einzusetzen, dass sich diese Fantasy-Welt so real anfühlt wie die unsere.
Und das muss man der kritisierten achten Staffel lassen: "Game of Thrones" sieht hier beeindruckend aus wie eh und je. Ganze Straßenzüge wurden am Set in Belfast, Nordirland, aufgebaut, um Königsmund für seine große Schlacht niederbrennen zu können. Drogon wurde mithilfe digitaler Effekte und Flammenwerfern real. Und obwohl "Die Glocken", die fünfte Folge dieser Staffel, so schlecht bewertet wurde wie keine zuvor, sieht sie einfach grandios aus.
Das alles haben wir den klugen Köpfen zu verdanken, die hinter dieser Serie stecken – doch lasst uns nicht vergessen, wer diese Welt ursprünglich erschuf. George R. R. Martin hat mit den visuellen Effekten und dem Budget hinter "Game of Thrones" nichts zu tun, doch sein Beitrag war größer als jeder, den die Serienproduzenten je hätten leisten können. Es sind seine Dialoge, die dieser Welt Atem einhauchen, und die grenzen an Poesie. Ach, was heißt "grenzen"; "Game of Thrones" ist zitierungswürdig wie vielleicht keine andere Serie da draußen.
Ein Zitat, das gleichzeitig für Martins Buchvorlagen wirbt, die mit der sechsten Staffel allerdings überholt wurden. Ja, zugegeben: Seitdem haben die Dialoge deutlich nachgelassen (und die Handlung mit ihnen). Doch haben die Serienmacher gegenüber Martin einen Vorteil – sie können Aspekte dieser Welt umsetzen, die im Schriftlichen einfach nicht möglich sind.
Ein Beispiel: Die Sprachen dieser fiktiven Welt. Ob Dothraki oder Valyrisch – welche Serie kann sonst von sich behaupten, eigene Sprachen für ihre Charaktere zu erschaffen? Anhand weniger Vokabeln, die Martin in seinen Büchern verwendete, bauten Sprachwissenschaftler für "Game of Thrones" ganze Wortschätze und Grammatiken. Das soll mal einer nachmachen.
Ein weiteres Beispiel: Die Mystik. Es ist etwas anderes, von einem Drachen zu lesen, anstatt ihn zu sehen. Von Totenarmeen zu lesen, anstatt ihnen auf einem Bildschirm gegenüberzusitzen. "Game of Thrones" hat es geschafft, die Balance zwischen Fantasy und Drama so sicher und professionell zu halten, dass selbst Fantasy-Hasser hier auf ihre Kosten kommen: Die mystischen, magischen Aspekte sind so realistisch umgesetzt und kommen zumeist so dezent ins Spiel, dass man sich nicht fühlt wie in einer Fantasy-Serie, sondern in einem Drama mit Fantasy-Elementen, getrieben nicht von dem Bedürfnis nach Mystery und Special Effects, sondern seinen starken Charakteren.
"Game of Thrones" ist prinzipiell eine Gut-gegen-Böse-Geschichte, aber so schlicht kann man den treibenden Konflikt nicht zusammenfassen, da er auf vielen Ebenen gleichzeitig stattfindet. Lebende kämpfen gegen Tote, großherzige Herrscher gegen eiskalte Diktatoren, vermeintlich schwache Frauen gegen hasserfüllte Männer. Kriege, die wir in ähnlichen Formen schon Tausende Male gesehen haben; es ist allerdings die Charaktertiefe jeder einzelnen dieser Figuren, die "Game of Thrones" so realistisch macht. Die "Guten" haben Schwächen und machen Fehler, die Konsequenzen mit sich bringen; die "Bösen" sind nicht x-mal dieselbe Person, sondern unterscheiden sich in ihrer Motivation und ihrem Sadismus voneinander und sind ebenso wenig unbesiegbar wie ihre Widersacher.
Dieser Facettenreichtum ist besonders beeindruckend, wenn man bedenkt, wie viele Charaktere es in dieser Welt gibt. Und doch fühlt sich keiner von ihnen – zumindest in den ersten Staffeln – an wie ein Stereotyp. Das liegt allerdings auch zusätzlich an der Brillanz dieser Schauspieler, denn (mit Ausnahme von Ed Sheeran in Staffel 7 vielleicht) landen hier nur kompetente Darsteller vor der Kamera. Und wer behauptet, keine Gänsehaut bekommen zu haben, als Daenerys in Folge 5 der jetzigen Staffel kurz vorm Nervenzusammenbruch auf Drogon über die Dächer Königsmunds starrte, lügt.
Warum fühlt man in solchen Situationen so mit diesen Charakteren mit? Ganz einfach: Weil wir sie kennen. Weil wir wissen, wo sie herkamen und wie sie gelandet sind, wo sie nun sind – denn in "Game of Thrones" bleiben Figuren nicht statisch, sondern entwickeln sich weiter. Sie erklimmen die gesellschaftliche Leiter, fallen einige Sprossen wieder nach unten; doch an einer Sprosse festklammern tun sie sich nie. Und sieht man sich Handlungsbögen wie den von Daenerys – vom zwangsverheirateten Vergewaltigungsopfer zur Königin – genauer an, von denen es in "Game of Thrones" zahlreiche, ebenso beeindruckende gibt, gerät man ins Stutzen: Wow, waren das jetzt wirklich nur acht Staffeln? Diese Leute sind so weit gekommen! Und wie ist das möglich? Ganz einfach:
Wie gesagt: "Game of Thrones" mag vom Prinzip her eine Fantasy-Serie sein, doch fühlt sie sich realistischer an als die meisten Dramen. Und das liegt daran, dass "GoT" vollkommen ohne an den Haaren hergezogenen Plot-Twists auskommt.
Versteht mich nicht falsch: Twists gibt es darin natürlich durchaus. Wer während der "Red Wedding" kein hilfloses Kreischen von sich gab, hat kein Herz. Wer nicht entsetzt "WAS?" schrie, als Ned Starks Kopf seinen Körper verließ, noch weniger.
Aber es sind genau diese Momente, die "Game of Thrones" so einzigartig machten: Ja, es waren Schocker, wie sie im Serien-Buche stehen. Aber sie waren verdient. Endlich hatten die Taten von Hauptcharakteren ernstzunehmende Konsequenzen. Die sogenannte "Plot Armor", also die "Handlungsrüstung", die dafür sorgt, dass Hauptfiguren am Leben gehalten werden – komme, was da wolle –, weil sie in der darauffolgenden Handlung ja unbedingt weiter dabei sein sollen, schien hier nicht zu existieren. Ned Stark sorgte in Königsmund für Unruhe? Ab mit seinem Kopf. Robb Stark verletzte Walder Freys Stolz? Raus mit seinem Blut. Diese Wendungen waren furchtbar und vor allem furchtbar mitanzusehen, aber absolut berechtigt.
Ja, in der aktuellen Staffel hat sich das geändert. Charaktere überleben aktuell schier unüberlebbare Situationen – wie sonst hätte Sam Tarly die Schlacht um Winterfell überstehen sollen? Aber erinnert euch an die Staffeln zuvor. Wer einen Fehltritt beging, starb. Das ist brutal, aber realistisch. Vor allem, da "Game of Thrones" in einer mittelalterlichen Welt spielt, in der Enthauptungen nicht illegal, sondern ein öffentliches Event sind. Und genau so, wie die Leute im Mittelalter zum Dorfplatz rannten, um den jüngsten Verbrecher erhängt zu sehen, sitzen wir momentan Woche für Woche gebannt vorm Fernseher, um die aktuelle Folge zu sehen. (Und da wird ja auch sehr viel gestorben.)
"Game of Thrones" ist ein öffentliches Spektakel wie derzeit kein anderes. Bei welcher anderen Serie fürchtet ihr euch so sehr vor Spoilern und nehmt dafür absurde Fernsehzeiten in Kauf? Ich würde behaupten, für keine – denn die Zeiten, in denen Serien mit wöchentlichen Ausstrahlungen davonkommen konnten, sind vorbei. Die Ära des Bingewatchings hat längst begonnen, doch für "Game of Thrones" machen wir eine Ausnahme. Warum? Weil die Serie fantastisch ist. Ja, immer noch, wenn vielleicht auch weniger als vor einigen Jahren. Aber wieso zur Hölle sollte ich mir eine grandiose Serie von einigen schlechten Episoden verderben lassen?