Ich fand sie mutig, wunderschön, einfach anders. Die pinken Haarspitzen von Christina Aguilera.
Als ich sie im Musikvideo zu "Come on over" zum ersten Mal gesehen hatte, wollte ich auch so aussehen. Aber es war nicht nur ihre Frisur. Ich fand einfach alles toll an ihr.
Als ich versuchte, das unserer Kleinstadtfriseurin Heike zu erklären, wäre ihr fast die Schere aus der Hand gefallen. (Es wurde dann nicht pink, sondern kam zu einem fragwürdigen Kompromiss. Oben rot, unten ausblondiert.)
Die Phase mit Christina Aguilera dauerte eine Weile. Bis zu der Zeit, in der ich Avril Lavigne toll fand und ein Skateboard wollte. Zwischendurch war ich fest entschlossen, so schlau zu werden wie Marie Curie, die Entdeckerin der Radioaktivität – die mit zwei Nobelpreisen als Frau in der Forschung bis heute eine Ausnahme ist.
Was ich sagen will, ist: Die Vorbilder wechselten. Sie überholten sich. Irgendwann entdeckt man Frauen und Menschen, die noch klüger, schöner, witziger waren.
Aber wie ist das heute – haben die Kinder und Jugendliche noch Vorbilder? Und vielleicht ist die Frage auch: Wer eignet sich überhaupt noch als Vorbild?
Schalte ich den Fernseher an, sehe ich Pietro Lombardi. Es ist die große Zeit der Casting-Shows. Von TV-Formaten, bei denen sich jeder bewerben und es schaffen kann. Die Illusion von Sendungen wie "Deutschland sucht den Superstar" (DSDS) und "Germany's next Topmodel" (GNTM) ist: Auch du kannst reich und berühmt werden. Wenn sogar Pietro das schafft, dann schaffst du das locker.
Die Sache ist nur: Wenn das jetzt jeder kann – was ist dann überhaupt besonders an den Casting-Kandidat:innen? Dient dann Pietro Lombardi wirklich als Vorbild? Oder bedeuten Casting-Shows vielmehr das Aus für echte Vorbilder?
Tut es nicht, glaube ich. Denn tatsächlich gibt es meiner Meinung nach aktuell so viele Vorbilder wie nie zuvor.
Im TV kann ich auch Katja Krasavice sehen. Auch sie ist Jurorin bei "DSDS". Und doch steht sie für etwas anderes als Casting-Show-Lombardi. Sie ist sich ihrer Vorbildfunktion bewusst, rappt auch darüber. Und so überzeichnet und operiert sie als Vorbild sein mag, so authentisch ist sie doch – durch ihre Botschaft. Was sie sagt, ist: Sei als Frau so vorlaut, freizügig, unangepasst wie du willst. Sei überhaupt genauso wie du bist – und so ist es perfekt. Und das ist nicht nur, was sie sagt. Es ist das, was sie selbst auch vorlebt.
Dazu kommt: Es läuft nicht nur "DSDS" und "GNTM" im Fernsehen. Und natürlich haben Kids heute auch Youtube, Instagram und Tiktok. Und auch hier können sie Vorbilder finden: Viele Jungs finden den Stürmer Kylian Mbappé toll. Viele Mädchen die Sängerinnen Ariana Grande und Billie Eilish oder "Wednesday"-Star Jenna Ortega. Es sind andere Namen als früher. Das Prinzip ist aber das gleiche wie bei mir und Christina Aguilera. Jugendliche heute hören ihre Songs, sehen ihre Filme und Fußballspiele – und tragen ihre Trikots und Fingernägel in der gleichen Farbe wie sie.
Und dann gibt es die Vorbilder, die eigentlich gar nichts Außergewöhnliches machen – und gerade deshalb Vorbilder sind. Beauty-, Koch- oder Gaming-Influencer zeigen sich beim Schminken, Kochen, Computerspielen. Bei etwas, was Millionen andere Menschen so oder so ähnlich auch jeden Tag machen. Und doch werden sie von all diesen Menschen angehimmelt – weil sie ihren Fans weismachen, dass sie wissen, wie es wirklich geht.
Sie sind nur deshalb erfolgreich, weil andere es nicht sind. Weil andere nicht perfekt sind. Es ist ein Deal mit der Unzulänglichkeit anderer. Damit ist Katja Krasavice ("Du bist perfekt.") die Anti-Influencerin. Und doch sind beide Typen Vorbilder.
Ich bin froh, dass heute nicht mehr Christina Aguilera mein Vorbild ist. Aber – und dazu stehe ich – ich bin sehr froh, dass es Christina Aguilera war.
Allein schon deshalb, weil sie im Vergleich zu Britney Spears die Coole war. Britney war die Nette in faltenfreier Schuluniform. Christina hingegen hat sich im Video zu "Dirty" verschwitzt geprügelt in einer Hose, die keine war. Und sich so von ihrem Image als braver Kinderstar befreit. Ohne, dass ich das mit 12 Jahren so hätte formulieren können: Eigentlich war das damals schon die sexuelle Selbstbestimmung.
Gerade als Jugendliche brauchen viele Vorbilder als Orientierung, Wegweiser, Anstoß. Sie nutzen sie als Inspiration, um die zu werden, die sie sein wollen. Auch heute noch.
Aber heute – habe ich noch Vorbilder?
Vielleicht ist Vorbild das falsche Wort. Ich bewundere meine Schwester für ihren Mut, Dinge einfach zu machen. Ohne zu viel nachzudenken, was andere sagen könnten. (Sie ist Künstlerin und gerade zurückgezogen in die Kleinstadt – um dort ein Poledance-Studio aufzumachen. Einfach so.)
Ich staune über meine beste Freundin, die gerade Mutter geworden ist. Und jetzt tatsächlich einen kleinen Menschen wachsen lässt. Jeden Tag.
Ich liebe es, wie klug mein Partner ist, der mich jeden Tag über einen neuen Tellerrand blicken lässt, von dem ich bis dahin gar nichts wusste.
Aber sind sie Vorbilder für mich?
Nicht im Sinne von Idolen. Aber in gewissen Situationen oder durch bestimmte Charaktereigenschaften sind sie eben doch Vorbilder für mich. Weil sie sich so verhalten, wie ich mich gerne verhalten würde. Weil ich von ihnen lerne. Immer und immer wieder. Ich brauche also keine Vorbilder im klassischen Sinne. Ich brauche Menschen wie diese.
Nur eines sind sie natürlich nicht: berühmt.
Die meisten denken bei Vorbildern an berühmte Menschen. Dabei sind für viele Kinder noch die Eltern Vorbilder. Erst später kommt die Pubertät, mit ihren Christina Aguileras, Avril Lavignes und Marie Curies. Und danach – warum hört das nach der Pubertät mit den prominenten Vorbildern einfach auf?
Natürlich gibt es immer noch bekannte Menschen, die man irgendwie gut findet. Ich lache über Olli Schulz, finde Annalena Baerbock super, liebe die Bücher von Margarete Stokowski. Viele fanden auch toll, was Fynn Kliemann gemacht hat. Seine Musik, seine Handwerker-Videos, das Hausboot. Es war ja auch sehr leicht, das alles richtig gut zu finden. Doch dann kam die Masken-Affäre. Seitdem finden die meisten Fynn Kliemann eher kacke.
Es ist wohl so. Auch unsere Vorbilder sind nicht perfekt. Und weil wir nicht mehr zwölf sind, kriegen wir das heute mit. Vielleicht sind wir inzwischen zu smart, zu aufgeweckt, zu abgeklärt für Vorbilder. Wir gehen heute pragmatischer mit Prominenten um, die Vorbilder sein könnten. Und das ist doch auch okay so. Ich höre Olli Schulz im Podcast, folge Annalena Baerbock und Margarete Stokowski auf Instagram. Aber meine Haare trage ich trotzdem heute so, wie ich sie tragen will.
Inzwischen bin ich älter als Christina Aguilera damals war, als ich sie mit zwölf Jahren angehimmelt habe. Ich bin nicht mehr Schülerin, sondern stellvertretende Chefredakteurin von watson. Ich bilde mir nicht ein, ich könnte für andere ein Vorbild sein. Aber ich hoffe doch, dass ich manchmal Dinge sage, die uns als Gesamtredaktion besser machen.
Und ganz allgemein, auch losgelöst von watson, versuche ich wirklich, hin und wieder Sachen zu machen, die andere klug, witzig oder smart finden. Die sie zum Nachdenken bringen, die sie inspirieren und auf irgendeine Weise weiterbringen. Das klappt nicht immer. Aber oft genug. Manchmal sogar, ohne es zu merken.
Ich weiß, wie wichtig für mich diese Menschen immer wieder waren und sind. Mein Partner, meine beste Freundin, meine Schwester, zum Beispiel. Wäre es daher nicht schon wahnsinnig viel, für andere manchmal selbst ein bisschen so zu sein?
Wer braucht dann noch prominente Vorbilder?