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Kritik an Caroline Wahl: Warum "22 Bahnen" gerade auf Tiktok trendet

ARCHIV - 24.08.2025, Bayern, München: Die Autorin Caroline Wahl steht bei der Weltpremiere des Films "22 Bahnen" in der Astor Filmlounge im ARRI auf dem Blauen Teppich. (zu dpa: «Stuckrad-Ba ...
Caroline Wahl wird aktuell mit viel Kritik konfrontiert.Bild: dpa / Felix Hörhager
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Tiktok-Kritik an Caroline Wahl, oder: Misogynie at its best

Seit Wochen steht Bestseller-Autorin Caroline Wahl auf Tiktok in der Kritik. Darin zeigt sich einmal mehr: Unsere Gesellschaft ist noch immer nicht bereit für erfolgreiche Frauen.
12.09.2025, 19:3912.09.2025, 19:39
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Ein Mann (Paulo Coelho) schreibt ein Buch ("Elf Minuten") aus der Sicht einer jungen Brasilianerin. Er erzählt, wie diese beginnt, als Prostituierte zu arbeiten. Die Frau verliebt sich, erlebt quasi nebenbei ihren ersten Orgasmus und entdeckt das Wunder ihrer eigenen Klitoris. Niemand zweifelt an, ob Coelho diese Erfahrung als cis-Mann denn auch authentisch wiedergeben kann.

Ein Mann (Benjamin von Stuckrad-Barre) schreibt ein Buch ("Noch wach?") über einen MeToo-Fall in einem Verlag. Niemand zweifelt an, ob Stuckrad-Barre das als Mann ohne die eigene Erfahrung von Machtmissbrauch aus Sicht einer jungen Frau auch authentisch wiedergeben kann.

Ein Mann (Sebastian Fitzek) schreibt ein Buch über einen Kindsmörder und niemand … Anyways, you get the point. Die Liste mit Büchern von männlichen Autoren könnte an dieser Stelle beliebig lang weitergeführt werden.

Sie alle schreiben über Dinge, die sie wohl nur ansatzweise wirklich authentisch wiedergeben können – bei Fitzek wollen wir das angesichts der monothematischen Ausrichtung auf Mord und Totschlag zumindest hoffen. Aber der Punkt ist: Das müssen sie auch nicht. It’s called art und die darf im Jahr 2025 ja nun wirklich alles.

Tiktok: Caroline Wahl erntet heftige Kritik für "22 Bahnen"

Naja, fast alles. Schließlich kommt es immer auf die Urheber:innen an. Schreibt eine Frau (Caroline Wahl) ein Buch ("22 Bahnen"), in dem die Protagonistin in prekären Verhältnissen aufwächst, stellt sich direkt eine Frage: Ist diese Frau selbst in prekären Verhältnissen aufgewachsen? Kann sie wirklich authentisch über Armut und Alkoholismus schreiben, wenn sie nicht exakt den gleichen Werdegang wie ihre Protagonist:innen hat?

Glaubt man dem aktuellen Shitstorm auf Tiktok, scheint die Antwort auf diese Frage gemeinhin: Nein. In Dutzenden Videos kritisieren Menschen Caroline Wahl. Nicht nur für ihr Aussehen und ihre Stimme (damit rechnen weibliche Personen in der Öffentlichkeit ja heute schon von vornherein).

Der Fokus liegt bei Wahl vor allem auf einem Text, der im vergangenen November bei der "Welt" erschienen ist. Sie sagte dort, dass sie gerne einen Ferrari hätte, und kaufte im Beisein des Journalisten eine Sonnenbrille für knapp 400 Euro.

Eine Reportage, der damals wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde, die heute aber die Gemüter auf Tiktok zum Kochen bringt. Wie kann sie nur über das Angewiesen-Sein auf Gut-und-Günstig-Produkte schreiben und dann ein solches Leben führen? Hat jemand Paulo Coelho schon mal gefragt, wie es so ist, als Prostituierte zu leben?

Coelho hat für sein Buch Aufzeichnungen von anonymen Betroffenen genutzt. Wahl hat nach eigenen Angaben viel Inspiration aus Filmen genutzt. Auch das nennt sich Kunstfreiheit.

Frauen und das Problem mit dem Erfolg im Patriarchat

An dem Shitstorm aber zeigt sich einmal mehr, wie gut unsere Gesellschaft mit erfolgreichen und noch dazu selbstbewussten Frauen klarkommt. Nämlich gar nicht. Dass eine 30-Jährige innerhalb von zwei Jahren zwei Bestseller-Romane schreibt und dann nicht einmal demütig sein will, finden viele zum Kotzen. Aber warum?

Einerseits hat Booktok und Co. unsere Kritikfähigkeit verändert. Anstatt ausgefeilte Rezensionen zu lesen, hören wir uns zweiminütige Rants an, die gefühlig statt argumentativ sind. Und Übertreibung verkauft sich im Internet bekanntermaßen beinahe so gut wie Nacktheit.

Um die eigene Reichweite auf Tiktok zu erhöhen, zieht heftige Kritik à la "Was für ein Scheißbuch" besser als "Diesen Nummer-1-Bestseller habe ich richtig gern gelesen". Natürlich ist es wichtig und auch normal, dass nicht alle die gleiche Meinung haben. Nennt sich Debattenkultur. Nur ist die leider spätestens mit dem Erstarken von Social Media endgültig verkommen.

Armut in "22 Bahnen": Tiktok-Nutzer kritisieren Aneignung

Jede:r Autor:in freut sich darüber, wenn Leser:innen konstruktive Kritik äußern und sich mit dem eigenen Material tatsächlich auseinandersetzen. Bei "22 Bahnen" jedoch darf man die Frage stellen, ob wirklich alle, die sich auf Tiktok an der Debatte beteiligen, plötzlich auf die Idee gekommen sind, dass Caroline Wahl sich das Armutsthema unpassenderweise angeeignet hat.

Denn man kann dieses Buch auch lesen, ohne überhaupt einen Fokus auf Armut darin zu sehen. Alkoholismus, klar. Aber Heinz Strunk ist meines Wissens auch kein kranker Säufer und hat trotzdem (gute!) Bücher wie "Der goldene Handschuh" und "Ein Sommer in Niendorf" geschrieben. Am Ende sind es schließlich auch immer die Verlage, die entscheiden, wem welche Bühne gegeben wird.

In einigen Kommentaren zu "22 Bahnen" äußern sich zudem Betroffene, die sich durch die Darstellung von Wahl durchaus gesehen und anerkannt fühlen.

Toxische Weiblichkeit und Literaturkritik

Auf der anderen Seite ist "Girl Hate", wie ihn die US-amerikanische Bloggerin Tavi Gevinson schon 2011 bezeichnete, eben aktuell wieder absolut en vogue. Frauen gönnen anderen Frauen keinen Erfolg, weil das ihren eigenen Erfolg schmälert. Klingt paradox? Ist es auch.

Weil uns das Patriarchat über Jahre hinweg eingetrichtert hat, dass weibliche Personen mit Erfolg böse, einsam und kaltherzig sind, haben wir den Hass auf sie internalisiert. Wir kennen das von der Ex-Kollegin, die eine coole neue Stelle hat oder von der Freundin, der in einer Diskussionsrunde mit Männern immer zugehört wird. Dabei hassen wir gar nicht sie als Person, sondern den Fakt, dass es noch immer zu wenig Platz für uns alle gibt.

Caroline Wahl und der Buchpreis: Hochmut kommt nie gut

Viral geht aktuell auch Caroline Wahls Bemerkung zum Deutschen Buchpreis. "Wenn ich nächstes Jahr nicht mindestens auf der Shortlist stehe, wandere ich aus", schrieb sie auf Instagram und zeigte sich damit enttäuscht darüber, dass sie nicht für den Preis nominiert war – übrigens begleitet von Ausdrücken davon, wie glücklich sie sich über ihren bisherigen Erfolg schätze.

Bis heute nimmt man Wahl diese Aussage jedoch krumm und bezeichnet sie deshalb als arrogant. Aber erinnert sich noch jemand an Clemens Mayer? Der Autor bezeichnete die Buchpreis-Jury 2024 als "verdammte Wichser", weil er nicht gewann. Hey, Caroline, sei doch endlich mal bescheidener!

Zwar berichteten auch einige über den Vorfall mit Mayer – klar, klickt gut so ein Zitat. Interessanterweise ging es in Artikeln und Videos aber immer darum, Mayers Beweggründe für seine so wortgewandte Aussage möglichst neutral darzustellen. Der Autor appellierte an die Emotionen in der Literaturwelt und machte finanzielle Probleme öffentlich.

Bei Männern müssen solche Aussagen immer gleich einen Bezug zum großen Ganzen haben. Frauen aber wird unterstellt, dass sie sich sowieso nur um das eigene Wohlergehen sorgen – interessant, wenn man bedenkt, dass Frauen ja eben das Geschlecht sind, das weltweit die Mehrheit der Care-Arbeit übernimmt und basically immer an andere denkt.

In einem viel kommentierten Tiktok wird Caroline Wahl vorgeworfen, sie würde mit ihrem Buch über Armut reich werden wollen. Wie reich man im Jahr 2025 tatsächlich mit Büchern werden kann, sei mal dahingestellt.

Aber: Autor:innen (und Verlage!) verdienen mit Büchern über Vergewaltigungen Geld. Mit Büchern über Krieg, über Drachen und über Sex. Selbst mit Büchern über Sex mit Drachen kann man heute Geld verdienen. Und weil es Teil unserer Gesellschaft ist: auch mit Büchern über Armut.

Natürlich wäre es schön, wenn in diesem Zusammenhang Menschen aus prekären Verhältnissen eine Bühne bekämen. Aber schaut man sich die Kritik an Caroline Wahl an – einer weißen Frau ohne Behinderung – lässt sich sagen: Für mehr Sichtbarkeit anderer marginalisierter Gruppen scheint die Gesellschaft noch nicht ready.

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