Für meinen Tiktok-Algorithmus schäme ich mich manchmal ein bisschen. Der ist so wirr, hat so viele verschiedene Einflüsse. Zwischen Brainrot, Tanz-Trends, Travel-Vlogs und Einrichtungstipps schafft es manchmal ein Video, in mir echte Emotionen auszulösen.
So war es, als ich das erste Mal Jassins "Bitte sei vorsichtig" gehört habe. Ich klicke auf den Sound und merke plötzlich: Ich bin mit diesem Gefühl nicht allein.
Jassin, einer der spannendsten Nachwuchsmusiker Deutschlands, lässt seine Zuhörer:innen seine eigenen Brüche sehen. Damit erlaubt er einer ganzen Generation, es ihm nachzutun.
Denn meiner Generation – der Gen Z – geht es ehrlicherweise miserabel. Wir sind geplagt von Ängsten, von Unsicherheiten, von dieser leisen, aber stetigen Nervosität, die uns einfach nicht loslassen will.
Natürlich lässt sich das erklären. Wir sind jung, und Selbstsicherheit wächst nicht auf Knopfdruck. Sie entsteht langsam, im Widerstand gegen Rückschläge, im geduldigen Meistern kleiner und großer Krisen. Erst wenn man die Wunden des Lebens kennt, weiß man auch, dass sie heilen können.
Und trotz dieses Bewusstseins bleibt ein bitterer Beigeschmack und verdrängt die Hoffnung auf ein besseres Leben. So entwickeln viele Menschen aus meiner Generation Ängste. Manche sind konkret – Prüfungsangst, Zukunftsangst, Bindungsangst.
Andere fürchten nicht ein bestimmtes Ereignis, sondern das Unbekannte selbst: Szenarien, die nie eintreten und doch schlaflose Nächte bereiten. Manchmal genügt schon ein winziges Wölkchen, um den ganzen Himmel zu verdunkeln.
Das Tragische ist jedoch nicht, dass diese Ängste existieren – sondern dass wir kaum über sie sprechen. In Gesprächen mit Freund:innen merke ich immer wieder, wie ähnlich unsere inneren Kämpfe sind. Und trotzdem schweigen wir. Angst, so lernen wir früh, ist etwas für die Schwachen. Wer stark sein will, muss sie verdrängen, überspielen, übertönen. Schweigen gilt als Stärke – über die eigenen Brüche, die man allein und im Stillen kitten soll.
Doch gerade dieses Schweigen isoliert uns voneinander. Es lässt jede:n von uns glauben, wir seien allein mit unseren Sorgen. Das schafft Angst vor echter Nähe, vor der damit einhergehenden Verletzlichkeit.
Das zeigt auch ein Blick zu Tiktok. Denn dort haben Tausende den Sound genutzt, um über ihre eigenen Ängste und Unsicherheiten zu sprechen.
Die Angst vor dem ersten Kuss …
... die Angst vor Intimität ...
... die Angst vor Streit ...
... der Hass und die Härte gegenüber sich selbst ...
... oder die Angst vor der eigenen Mutter.
Wenn ich diese Videos sehe, erkenne ich so vieles wieder. Es sind Gefühle, die ich aus Gesprächen kenne, aus stillen Momenten mit mir selbst.
Dinge, die man sonst wegschiebt, weil sie schnell zu schwer wirken. Aber auf Tiktok werden sie ausgesprochen. Das, was sich für jede:n Einzelne:n wie ein einsamer Kampf anfühlt, wird dort plötzlich zu etwas anderem: zu einer kollektiven Beichte, einem leisen Eingeständnis, dass wir uns weniger allein fühlen müssen.
Es ist sicher nicht der erste Song, der Tabus berührt. Harry Styles' "Matilda" erzählt von seinem Kindheitstrauma, Nina Chubas "Unsicher" von brüchigem Selbstvertrauen.
Das Besondere bei Jassins "Bitte sei vorsichtig" ist nicht allein der Inhalt, sondern die Verschiebung des Raums, in dem er ausgesprochen wird. Popmusik hat eine lange Tradition, Gefühle und Verletzlichkeit ins Zentrum zu stellen.
Rap hingegen war über Jahrzehnte primär die Bühne der Pose: Stärke, Dominanz, Unangreifbarkeit waren das angestrebte Ideal. Eine aufgepumpte Männlichkeit betoniert mit Misogynie und Gangster-Pathos.
Wenn Jassin nun seine Ängste, seine Sehnsucht nach Nähe, seine Zerbrechlichkeit in diese Klangwelt einschreibt, dann öffnet er ein Fenster in einem Genre, das sonst auf Beton gebaut scheint.
Hinzu kommt die Form seiner Sprache. Jassin spricht nicht in kunstvollen Chiffren, die Schmerz in Poesie kleiden, sondern in einer noch schmerzhafteren, schonungslosen Direktheit. Darin liegt die eigentliche Radikalität. So singt er:
Und schließlich ist da die Resonanz, die über den Song hinausgeht. "Bitte sei vorsichtig" bleibt nicht ein alleinstehendes Kunstwerk, es wird auf Tiktok zu einem Raum der Selbstoffenbarung. Plötzlich entstehen aus hunderten Einzelgeständnissen kollektive Muster. Der Song ist so nicht nur der Soundtrack einer Generation, er wird zu ihrem Sprachrohr.
Während andere Lieder trösten oder begleiten, schafft Jassin etwas Seltenes: Er verwandelt das Private ins Kollektive.
Und das ist gewaltig. Denn: In dem Moment, in dem Angst ausgesprochen wird, verliert sie ihre erschreckende Macht. Sie wird vom überwältigenden Geist zum Gegenüber, mit dem verhandelt werden kann.