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Autor Michael Nast: Tinder ist gut!

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Bild: steffen jähnicke
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Tinder ist gut 

"Sag mir, wie du deine Apps nutzt und ich sage dir, wer du bist"
02.12.2018, 17:5302.12.2018, 18:47
michael nast
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Gelegentlich stelle ich mir die Frage, welche der Dinge, die ich im Internet nutze, mein Leben verbessert haben. Eine Frage, die sich vielleicht jeder einmal stellt. Oder zumindest stellen sollte.

Es ist schon wahr. Das Internet nimmt einen nicht unwesentlichen Platz in meinem Leben ein. Das merke ich immer dann, wenn mein Internetanschluss nicht funktioniert. Ein Zustand, der mich schon nach Minuten zum Choleriker werden lässt. Ich habe auch festgestellt, dass ich sehr nervös werde, wenn die Batterieanzeige meines iPhones weniger als 30 Prozent zeigt. Ich fühle mich dann irgendwie behindert. In solchen Momenten begreife ich, wie abhängig ich bin. Aber das ist auch verständlich. Denn online zu sein, ist ja gewissermaßen eine Erweiterung meines Lebens. Es öffnet Möglichkeiten, es ergänzt mein Leben. Zum Vorteil oder auch zum Nachteil. 

Die Dating App Tinder ist da ein sehr gutes Beispiel.

Erst kürzlich habe ich mal wieder einen dieser Artikel gelesen, in dem die App analysiert wurde. Weil der Artikel in der FAZ stand, fand diese Analyse auf hohem Niveau statt. Die Autorin hat sich ziemlich kompliziert ausgedrückt, aber letztlich wollte sie wohl sagen, dass uns Tinder zu pathologischen Nymphomanen erzieht. Zu Sexsüchtigen, die ihr Leben als Pornofilm verstehen und das auch so umsetzen.

Michael Nast 
... ist deutscher Schriftsteller und Kolumnist. Er lebt derzeit in Berlin. Den Durchbruch schaffte er mit "Generation Beziehungsunfähig", das sich über 46 Wochen in der Spiegel-Bestsellerliste hielt. Sein aktuelles Buch #Egoland erschien im April 2018. 

Tinder ist eine Sex-App, rief mir der Artikel zu. Eine Schlussfolgerung, die sich offen gestanden auch mit meinen Erfahrungen deckt.

Es gibt ja bei Tinder diese Funktion, Profile per SMS an andere zu verschicken. Sie ist eigentlich für den Fall gedacht, dass man eine Person entdeckt, von der man annimmt, sie würde einem Freund gefallen. Ich habe einen Bekannten, der diese Funktion häufig nutzt. Er schickt mir praktisch jeden zweiten Tag Profile von Frauen auf mein Handy. Allerdings nicht, weil ihm mein persönliches Glück am Herzen liegt. Nein. Er nutzt sie eher zweckentfremdend.

Er leitet mir nämlich die Profile der Frauen weiter, mit denen er geschlafen hat. Mich zu informieren scheint zu seinem Vollzugsritual zu gehören. Mir war offen gestanden gar nicht klar, wie wenig Sex ich eigentlich habe, seitdem ich über die Frequenz seiner Liebschaften so umfassend informiert bin. Ich frage mich allerdings auch, ob es ein erstrebenswerter Entwurf ist, nach dem ersten Sex das Interesse an einer Frau zu verlieren, um sich der nächsten zuzuwenden. Ein Konzept, mit dem Tinder ja inzwischen generell assoziiert wird.

Im August war ich auf dem Geburtstag meiner Nichte Sophie, die ihren 32. Geburtstag feierte. Im Laufe des Abends passierte etwas Außergewöhnliches. 

Hier geht's zum Instagram-Account von Michael Nast.

Mein Tinder-Bild wurde erschüttert.

Als ich eintraf, stellte sich ziemlich schnell heraus, dass ich der einzige Single auf der Party war. Wenn ich als Single auf Paare treffe, interessiert mich immer, wie sie sich kennen gelernt haben. Dabei geht es mir weniger um die Geschichte, die sie später ihren Kindern oder Enkeln erzählen werden. Mir geht es eher darum, wie oder wo man Frauen kennen lernen kann, mit denen man dann tatsächlich eine gesunde Beziehung führen kann. An den Orten, an denen ich mich abends aufhalte, findet man eher Frauen, die eigentlich gar keine Beziehung brauchen. Sie benötigen eher eine Therapie. Aus irgendeinem Grund scheine ich Frauen anzuziehen, die mit ihrem Leben nicht allein klar kommen, einen Rettungsanker suchen oder gar nicht wissen, was sie eigentlich wollen. Ich entspreche offenbar ihrem Beuteschema. Darum interessiert mich immer, wie sich Paare begegnet sind, deren Beziehung scheinbar funktioniert.

Nun ja.

Als ich meine Nichte fragte, wie sie ihren Freund kennen gelernt hat, mit dem sie jetzt seit einem guten Jahr zusammen ist, sagte sie: "Auf Tinder."

"Tinder?", wiederholte ich, und es klang wohl fassungsloser als es eigentlich klingen sollte. Sophie sah mich mit unschuldigem Blick an.

Auf dem Geburtstag gab es noch zwei weitere Paare, die sich über die App kennen gelernt haben. Beide Paare sind inzwischen verheiratet. Ich sah sie irritiert an, weil ich ja bisher ausschließlich Menschen kannte, die Tinder als App für schnellen, unverbindlichen Sex nutzen.

Plötzlich passierte es. Ich verstand! Ich verstand, dass diese drei Paare Tinder einfach nur richtig benutzt haben.

Tinder hat viele Vorteile.

Man kann zum Beispiel Menschen kennen lernen, denen man sonst nie begegnet wäre. Man weiß von vornherein, ob sie an Sex oder einer Beziehung interessiert sind, was hilfreich sein kann, um schon im Voraus erste Missverständnisse auszuschließen. So gesehen ist Tinder ja ein wertvolles Tool.

Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, finde ich es erstaunlich, dass sich so viele über dieses Werkzeuge aufregen. Tinder wird ja genau genommen nur als Sex-App empfunden, weil so viele sie als Sex-App nutzen. Das Problem ist nicht die App. Es sind die Menschen, die sie bedienen. Mit welchen Zielen man Tinder nutzt, sagt doch viel mehr über einen selbst aus als über die App selbst.

Ein Prinzip, dass sich so ziemlich auf alle neuen Technologien anwenden lässt.

Eine Fünfundzwanzigjährige hat mir einmal erzählt, dass eine Freundin aufgehört hat, ihre Fotos bei Instagram zu liken. Das klingt zunächst banal, aber es war ein Umstand, der sie sehr beschäftigte. Sie fragte sich, was da passiert war. Nachdem sie viele Hypothesen aufgestellt hatte, schrieb sie ihr, ob sie ein Problem mit ihr hätte. Ob sie irgendetwas falsch gemacht hat. Ich sah sie fassungslos an, und fragte mich, was für Auswirkungen es gehabt hätte, wenn ihre Freundin sie nicht mehr abonniert hätte. Man wagt es sich nicht auszumalen.

Im Sommer habe ich vor einem Cafés einige Leute an einem Tisch sitzen sehen, die sich nicht unterhielten, sondern schweigend auf ihre Handys starrten, obwohl sie offensichtlich zusammengehörten. Ich blieb stehen und beobachtete sie ein bisschen. Vielleicht hatte es ein Attentat gegeben, dachte ich. Oder einen Anschlag. Vielleicht war sogar Helene Fischer gestorben. Ich griff nach meinem Handy und vergewisserte mich auf Spiegel Online und Bild.de, aber nichts war passiert. Es musste andere Gründe haben. Offensichtlich reichte ihnen die Gegenwart ihrer Freunde nicht aus, um ihnen das Gefühl zu vermitteln, jetzt am richtigen Ort zu sein, dachte ich. Sie blendeten sie aus. Ganz kurz tauchte der Gedanke in mir auf, dass ihnen vielleicht die Online-Inszenierungen ihrer Freunde lieber waren als ihre realen Gegenstücke in der Wirklichkeit.

Ich betrachtete die Gruppe, deren Blicke über die Bilder auf den Displays ihrer Smartphones hasteten. Wahrscheinlich hatten sie das Gefühl, ihr Posten, Liken und Kommentieren verband sie mit der Welt, obwohl sie ja eigentlich nur anderen Menschen dabei zusahen, deren Blicke ebenfalls über die Displays ihrer Handys hasteten. Obwohl sie Zeit miteinander verbrachten, zogen sie es vor, allein zu sein.

Ich habe Apps immer als eine Ergänzung meines Lebens empfunden.

Sie sind Hilfsmittel, nichts anderes. Und sie sollten nicht der Mittelpunkt werden, um den alles kreist, oder dem sich alles unterordnet. Wenn sie zum Mittelpunkt werden, hat man irgendetwas falsch gemacht. Wenn sie das Leben nicht mehr nur ergänzen, sondern ersetzt haben. Es geht um einen gesunden Umgang. Wie bei allem ist es wichtig, das richtige Maß finden, sonst werden sie zu Werkzeugen, die unser Leben bestimmen.

Letztlich kommt es auf einen selbst an. Man kann Apps wie Tinder natürlich verteufeln, aber das ist nichts weiter als eine Ausrede. Ein Ausweichen vor der Frage, die man sich eigentlich stellen sollte. Es geht nicht darum, welche der Dinge, die man im Internet nutzt, das eigene Leben verbessern. Es geht darum, sich zu fragen, wie man sie nutzen sollte, damit sie es verbessern.

"Sag mir, wie du deine Apps nutzt und ich sage dir, wer du bist." Und das gilt eben auch für Tinder. Darüber nachzudenken, kann sehr aufschlussreich sein. Es kann der erste Schritt sein, sich selbst zu hinterfragen. Ein Anfang. Die große Chance, ein paar Dinge neu zu sortieren, und Veränderungen vorzunehmen.

Es lohnt sich. Vertrauen Sie mir.

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