Ein Kumpel von mir meinte letztens, dass er gerne jeden Tag eine Postkarte an seine Freunde verschicken würde: "Liebe Tanja, wie geht es dir? Hier ist alles scheiße. Viele Grüße – dein Robert". Ich finde, das fasst die Stimmung, die die meisten von uns aktuell wahrscheinlich haben, ganz gut zusammen.
Wie schön wäre dann doch, endlich gegen Corona geimpft zu sein. Wieder in eine Bar, zu einem Konzert, ins Theater gehen zu können, sich anstatt verzweifelter DIY-Aktionen die Haare risikoarm vom Profi schneiden zu lassen, den Sommerurlaub zu planen. Ich dachte immer, ich sei recht genügsam – aber selbst ich erwische mich dabei, wie ich sehnsüchtig an den Strand in Italien denke. Und als mir der Impfrechner verriet, dass ich nach aktuellem Stand frühestens in einem Jahr dran komme, habe ich ein langes Gesicht gezogen: Noch mindestens ein Jahr lang höchste Vorsicht bewahren. Wie unaufregend.
Fällt es mir schwer, zu Hause zu hocken und Freunde maximal vereinzelt zum ewigen Spaziergang zu treffen? Zunehmend. Finde ich die Gesamtsituation kacke? Klar. Finde ich deswegen, dass andere Menschen genauso unzufrieden sein müssten wie ich? Quatsch. Wenn andere Menschen vor mir durch eine Impfung geschützt werden und sich dadurch wieder etwas sicherer durchs Leben bewegen dürfen, geht es mir dadurch ja nicht schlechter. Also sollen sie das bitteschön auch dürfen.
Heute Vormittag hat der Ethikrat verkündet, keine "Sonderrechte" für Geimpfte einräumen zu wollen. Mit Sonderrecht ist gemeint, dass Menschen, die bereits gegen Corona geimpft sind, keine Sonderregeln mehr befolgen müssten, also Schrittweise zum Normalzustand zurückkehren könnten. Maske tragen und Abstand halten könne man auch Geimpften weiterhin zumuten. In Pflege-, Senioren, Behinderten- und Hospizeinrichtungen sollten hingegen Ausgehsperren und Besuchseinschränkungen schnell aufgehoben werden, wenn die Bewohner durch eine Impfung geschützt sind.
Mit seiner Empfehlung reagiert der Ethikrat auf eine Debatte, die bereits im Dezember zum Impfstart in Deutschland aufgeflammt war, zwischenzeitlich wieder eingeschlafen und nun wieder aktuell ist – und zwar aufgrund eines Missverständnisses, wie es scheint. So hatte der Ticketverkäufer Eventim am Mittwoch dafür plädiert, dass Veranstalter das Recht haben sollten, Impf-Verweigerern den Zugang zu Events wie Konzerten zu verwehren. Was allerdings zunächst als Forderung verstanden wurde, Nicht-Geimpfte grundsätzlich von Veranstaltungen auszuschließen, bis sie mit dem Impfen an der Reihe seien.
Eventim hin oder her und mal abgesehen davon, dass in Deutschland noch nicht einmal ein nennenswerter Anteil der Bevölkerung geimpft ist, denen man die sogenannten Sonderrechte einräumen sollte: Wir müssen aufpassen, dass dieser Teil der Impfdebatte nicht zu einer Neiddebatte verkommt. Hört man doch schon die kritischen Stimmen, die behaupten: Wenn ich nicht darf, darf der da auch nicht. Das merkt man allein schon daran, dass wir hier von Sonderrechten für Geimpften sprechen, und nicht davon, dass wir den ersten Menschen hierzulande wieder den Weg in die Normalität ebnen wollen.
Ich sehe durchaus die Gefahr, dass es die Gesellschaft weiter spalten könnte, wenn die eine Gruppe wieder mehr darf als die andere. Dass der Neid manche Leute grundsätzlich an der Richtigkeit der Corona-Maßnahmen zweifeln lassen könnte, wenn sie sich dauerhaft eingeschränkt und vielleicht auch finanziell bedroht sehen, während andere schon wieder ein normaleres Leben führen. Dass es blöd ist, wenn ich bei irgendeinem Veranstalter kein Ticket kaufen kann, wenn ich keinen Impfausweis mit einer Corona-Impfung vorweise, mein Nachbar aber vielleicht wieder seine Lieblings-Band sehen darf. Auch an dieser Stelle hat der Ethikrat übrigens Zugeständnisse gemacht und den Veranstaltern das Recht eingeräumt, zu entscheiden, mit wem sie einen Vertrag eingehen, ob mit Geimpften oder Nicht-Geimpften.
Und weil ich dieses Risiko der tieferen Spaltung sehe, sollten wir uns doch gerade jetzt einmal mehr bewusstmachen: Solidarität bedeutet nun einmal auch, zeitweise verzichten zu können. Die Älteren und Angehörigen von Risikogruppen unter uns, die nun als Erstes geimpft werden, haben seit Beginn der Pandemie schon genug durch gemacht, mit all den Ängsten und der Einsamkeit, die sie durchstehen mussten. Dass sie dann vielleicht als Erstes wieder ins Kino dürfen, ist angesichts der vergangenen Monate eine kleine, aber vielleicht auch umso wirksamere Entschädigung.
Wer sich angesichts dieser Lage benachteiligt fühlt, weil er oder sie später geimpft wird, sollte sich bewusstmachen: Du erlebst diesen Nachteil gerade, weil du einen ziemlichen Vorteil hast. Sehr wahrscheinlich wirst du nicht tödlich an Covid-19 erkranken. Sehr wahrscheinlich wirst du jung und gesund sein, die Möglichkeit haben, dich zu Hause zu isolieren (ja, es gibt Menschen, die das nicht so einfach können) – und aktuell die Mammutaufgabe deines Lebens bewältigen müssen: Geduld beweisen. Und es ist richtig scheiße. Aber es wird vorbeigehen.
Ich finde es richtig und wichtig, dass wir uns jetzt schon Gedanken machen, wie sich der Alltag für Geimpfte und Nicht-Geimpfte in den kommenden Monaten gestalten wird, dass wir überlegen, wer dann eigentlich was darf. Und noch muss sich glücklicherweise niemand darüber aufregen, ernsthaft benachteiligt zu sein und wie ein Teller-Gucker neidisch zum Nachbarn schielen, der wieder in den Club gehen darf, während man selbst weiter ausharrt. Noch wissen wir nicht einmal, ob eine Übertragung des Virus durch eine Impfung tatsächlich verhindert wird, obwohl erste Daten von Astrazeneca dies nahelegen. Und zunächst einmal müssen wir überhaupt einmal schauen, dass wir genügend Impfstoff bekommen.
Bis dahin wird noch ein wenig Zeit vergehen. Aber wenn es dann einmal so weit ist, dass eine nennenswerte Gruppe von Menschen geimpft und es ihnen damit möglich ist, langsam wieder zum prä-pandemischen Alltag zurückzukehren, sollten wir ihnen das gönnen. Irgendwie müssen wir mit diesem neuen Normal ja mal anfangen.