In den letzten Jahren häufen sich rätselhafte Angriffe riesiger Orca-Wale, auch Schwertwale genannt, auf bemannte Schiffe. Das Verhalten ist mysteriös, denn eigentlich sind die Meeressäuger für ihr harmloses Benehmen gegenüber Menschen bekannt.
Weltweit gibt es bis heute keinen einzigen bekannten Fall, in dem Orcas in freier Wildbahn Menschen angegriffen haben – außer auf Booten. Wissenschaftler:innen versuchen daher seit einiger Zeit zu erklären, wie es zu den Angriffen kommen kann, während Schiffsbegeisterte sich fragen, wie gefährlich so ein Aufeinandertreffen ist.
Am Sonntagmorgen haben Schwertwale jetzt erneut eine Segeljacht in der Nähe von Gibraltar versenkt. Hier finden laut der Deutschen Stiftung Meeresschutz auch die meisten Orca-Aktionen statt. Und erneut stellt sich die Frage: Warum tun die Tiere das?
Laut spanischen Medienberichten haben die zwei Besatzungsmitglieder der 15 Meter-Jacht "Alborán Cognac" am Sonntagmorgen etwa 26 Kilometer vor Kap Spartel in Marokko am südlichen Eingang zur Straße von Gibraltar zunächst dumpfe Schläge gegen den Rumpf wahrgenommen. Dabei sei das Ruderblatt beschädigt worden.
Als dann Wasser in das Boot eingedrungen sei, hätten die beiden einen Notruf abgesetzt. Von Spanien aus sei ein Hubschrauber gestartet und ein in der Nähe fahrender Tanker gebeten worden, dem Havaristen zu Hilfe zu kommen, berichten mehrere spanische Medien unter Berufung auf das Verkehrsministerium in Madrid.
Eine Stunde nach dem Notruf seien die Schiffbrüchigen von dem Tanker wohlbehalten an Bord genommen worden. Die Jacht habe man jedoch nicht bergen können, sie sei kurz darauf gesunken. Es ist bereits der siebte Vorfall dieser Art seit 2020.
Expert:innen, die das Verhalten der Tiere studieren, gehen davon aus, dass die Orcas, die die Jacht gerammt haben, zu einer Gruppe von 37 Meeressäugern gehören, die zwischen dem Norden der Iberischen Halbinsel und der Straße von Gibraltar im Süden leben.
Obwohl stets von "Attacken" die Rede ist, sprechen Forschende lieber von "Interaktionen", da der Grund für das nur in diesem Seegebiet beobachtete Verhalten der Schwertwale nicht bekannt sei. So sei es möglich, dass die Tiere nur spielen wollten. Es könne sich aber auch um die Reaktion auf ein negatives Erlebnis mit einem Schiff handeln.
Die Deutsche Stiftung Meeresschutz mutmaßt konkreter: Mögliche Gründe könnten Nahrungskonkurrenz mit Fischer:innen sein, an deren Ködern sich die Tiere gerne bedienen. Auch zu intensive Whalewatching-Aktivitäten könnten ausschlaggebend sein. Alle Theorien bleiben jedoch Mutmaßungen, die wahre Ursache hinter dem Orca-Verhalten ist weiterhin ungeklärt.
Laut der Deutschen Stiftung Meeresschutz ereignete sich der erste Orca-Vorfall im Juli 2022, rund elf Kilometer vor dem Fischerdorf Sines in Portugal. Auch hier sank ein Segelboot nach einem Zusammentreffen mit den Schwertwalen. Die fünfköpfige Crew konnte sich auf einem Rettungsfloß in Sicherheit bringen.
Seitdem kommt es in und vor der Straße von Gibraltar immer wieder zu Orca-Interaktionen mit Booten. Inzwischen ziehen sich die Vorfälle bis in die Biskaya-Bucht, die sich von Galicien bis zur Bretagne entlang der Nordküste Spaniens und der Westküste Frankreichs erstreckt.
Größtenteils seien Segelboote unter 15 Meter Länge betroffen, berichten Wissenschaftler:innen der Arbeitsgruppe "Iberian Orca" (GTOA). Nur selten werden dagegen Motor- oder Fischerboote Ziel des rätselhaften Verhaltens der Schwertwale. Seit Beginn der Vorfälle sollen bereits knapp 700 Interaktionen registriert worden sein, die jedoch nicht immer mit einem Sinken des Boots enden.
Das "Problem" bei den Orca-Interaktionen ist ironischerweise die Intelligenz der Tiere. Es scheint vieles dafürzusprechen, dass es sich um eine kulturelle Entwicklung handelt, bei der erwachsene Gibraltar-Orcas das Verhalten den Jungtieren beibringen, die es wiederum weiterführen.
Der Biologe Ulrich Karlowski von der Deutschen Stiftung Meeresschutz bezeichnet die Entwicklung als eine faszinierende "Intelligenzleistung und gleichzeitig Dilemma":
In einem offenen Brief haben Meeresexpert:innen appelliert, auf dramatisierende und reißerische Narrative zu verzichten, weil sie befürchten, dass manche Segler:innen dadurch aggressiv auf die Tiere reagieren könnten. Mitte August 2023 hatte es bereits einen Vorfall gegeben, bei dem auf die Schwertwale geschossen wurde.
Nicht-invasive Verhaltensregeln sind allerdings nicht einheitlich: Das spanische Verkehrsministerium empfiehlt, per Motor rasch in flachere Gewässer zu verschwinden. Von der GTOA heißt es, durch ein Ausschalten von Motor und Autopilot und einem nicht fixierten Steuerrad könnten die Tiere das Interesse am Schiff verlieren.
Das spanische Verkehrsministerium legt Segler:innen nahe, von April bis August nicht in den Risikogebieten der Gibraltar-Orcas zu fahren oder sich möglichst nahe an der Küste aufzuhalten.
(mit Material der dpa)