Özil geht, der Hambacher Forst bleibt, Chemnitz schreckt auf – 2018 war turbulent. Auch für uns: watson.de startete im März. Auf einige Geschichten sind wir seitdem besonders stolz. Wie auf diese hier:
Es gibt so ein paar Jobs, bei denen man sich immer fragt: Wie sind solche Leute eigentlich drauf? Regisseure von Reality-TV-Formaten zum Beispiel.
Kai Tilgen ist 57 Jahre alt und seit 24 Jahren Profi in diesem Metier – er hatte TV-Formate wie "Deutschland sucht den Superstar", "Verstecke Kamera", Hochzeits- und Abnehmwettbewerbe in der Hand.
Nun hat er in einem Buch darüber aus dem Nähkästchen geplaudert – und die absurden Anekdoten, die er da so erzählt, klingen fast genauso Scripted, wie die Sendungen selbst...
Nach über zwei Jahrzehnten Schieberei im Fernsehen, glaubt Tilgen selbst nicht mehr, dass er in den Himmel kommt. Warum? "Es ist der Umgang mit den Menschen vor der Kamera, wie ich sie ausbeute, betrüge und belüge: ,Nein, das bleibt natürlich unter uns.' Oder: ,Eine Stunde maximal, dann sind wir wieder raus. Und wir machen auch nichts kaputt...'"
Seit 1994 produziert er Scripted Reality und Fernsehshows. Er liebt seinen Beruf, hat sich "Regie" sogar vor zehn Jahren auf den Rücken tätowieren lassen. Doch dazu gehöre auch, Menschen vor der Kamera aus der Reserve zu locken. "Es geht darum, die Leute vorzuführen, sich lustig zu machen", sagt er im watson-Gespräch.
Leute vorführen, die gar nicht merken, dass Millionen sich über sie lustig machen werden und im schlimmsten Falle auch zurück im normalen Leben Probleme bekommen? Hat er da gar kein schlechtes Gewissen? "Viele sind so seltsam, da kratzt es mich nicht. Wie dieser Lehrer bei DSDS, der sagte, er würde sich selbst eine glatte Eins fürs Singen geben und dann war er grottig. Da denke ich: Super. So einer benotet unsere Kinder?! Nö, da halte ich voll drauf."
"Ich habe mir vorgenommen eine anständige Person zu sein, aber das gelingt mir nicht immer", sagt er. "Ich mag dieses Manipulieren, das Strippen-Ziehen, ich finde das interessant... – Gut, vielleicht bin ich doch ein schlechter Mensch!"
Manchmal könne er auch Personen vorstellen, die wirklich erstaunliches leisteten oder Berufe, die die Welt ein bisschen besser machen, wie Rettungskräfte oder Zoopfleger. Seine Arbeit bestehe also nicht nur aus dunklen Seiten. "Ich frage mich aber schon, ob ich Propaganda mache", sagt er weiter.
"Es beschäftigt mich, wenn ich höre, dass Sanitätern und Polizisten immer weniger Respekt bei der Arbeit entgegengebracht wird. Denn wir vom Fernsehen zeigen ja ständig, wie Leute sich bei der Verhaftung wehren und wegrennen, als wäre das akzeptables Verhalten. Wir schwächen so unbewusst deren Autorität."
Er tauschte einmal eine Darstellerin aus, weil sie ein rechtes Tattoo auf dem Bauch trug: "Mit Nazis drehe ich nicht. Die sitzen in einer anderen Hölle", erklärt er.
Für die perfekte Aufnahme werden Erwachsene auch mal manipuliert. Bei Kleinen zieht er aber eine Grenze. "Mit Kindern darf man solche Sachen einfach nicht machen, das ist tabu und gehört sich nicht", so Tilgen.
Auch bei Drogensüchtigen und Obdachlosen sei er vorsichtig. Diese wären oft verschüchtert und nicht zurechnungsfähig, das sei aber kein Grund, sie einfach vor die Kamera zu zerren. "Das Recht am eigenen Bild gilt auch für Drogenabhängige."
Seit mehr als einem Jahrzehnt gibt es Shows wie DSDS, eigentlich wissen die Leute also, worauf sie sich einlassen. Warum finden sich trotzdem Bewerber? Perspektivlosigkeit, glaubt Tilgen. "Viele sehen keine andere Möglichkeit, um schnell erfolgreich zu werden. Sie denken, das sei ihre letzte Chance, um nicht in der grauen Masse unterzugehen – und das machen wir sie ja auch glauben." Das Gefühl in der Bevölkerung sei oft: Das Fernsehen hilft. Sei es bei der Renovierung, beim Schuldenabbau oder der Modelkarriere.
Für die Darsteller von Scripted-Reality-Sendungen gibt es auch Geld. Darum geht es aber nicht, meint Tilgen, das wären ja meist nur um die 80 Euro Zubrot. "Für viele ist es eher das drumherum: Man fliegt in eine andere Stadt, wird vom Airport abgeholt, kriegt ein Hotel und Essen bezahlt. Das ist die Wertschätzung, nach der viele Leute hungern."
Seine eigenen Kinder würde er übrigens im TV mitmachen lassen – sie aber vorher warnen. Dass seine sechs Kids Gefahr laufen, sich irgendwo anzumelden, glaubt er jedoch nicht, weil die jüngere Generation kaum TV schaut.
Anmerkung der Redaktion: In einer vorherigen Version dieses Artikels hieß es, Tilgen sei für die SWR-Produktion "Verstehen Sie Spaß?" tätig gewesen. Dies ist nicht korrekt. Tilgen arbeitete als Regisseur bei der ZDF-Sendung "Die versteckte Kamera". Wir haben den Fehler korrigiert und bitten, ihn zu entschuldigen.