Foodification in Europa: Wenn Essen ganze Städte auffrisst
Überfüllte Markthallen, überteuerte Weinbars, Tortellini in Spitztüten – in Europas Städten boomt der Genusstourismus. Doch was als Liebeserklärung an die lokale Küche begann, wird für viele Bewohner:innen zum Albtraum.
Bologna, Italiens stolze Universitäts- und Feinschmeckerstadt, trägt inzwischen einen neuen Spitznamen: "Città dei taglieri" – die Stadt der Schneidebretter. Denn immer mehr Delikatessen-Läden verwandeln sich in Mini-Bistros, Hochtische blockieren die engen Gassen und Touristen teilen sich Käseplatten für 20 Euro.
Vom Geheimtipp zur Gastro-Maschinerie
Das Phänomen hat einen Namen: Foodification, abgeleitet von Food und Gentrification. Gemeint ist der Effekt, durch den traditionelle Läden, Handwerksbetriebe und sogar Anwohner:innen von hippen Food-Spots verdrängt werden.
Was in Bologna passiert, kennt man längst aus anderen Metropolen: Venedig, Florenz, Paris, Lyon, Barcelona, Bilbao – überall dasselbe Bild. Wo früher Nachbarschaft war, herrscht heute Dauer-Brunch.
"Es ist schon bald sieben Jahre her, dass wir gemeinsam auf einer Café-Terrasse in unserem Wohnviertel in Turin saßen und uns fragten: Seit wann sind hier rundherum eigentlich nur noch Lokale?", erinnert sich Marco Perruca gegenüber der "Welt". Gemeinsam mit seinem Freund Paolo Tessarin schrieb er das Buch "Foodification – Wie das Essen die Städte aufgefressen hat".
Ihre Kritik: Nicht die Tourist:innen sind das Problem, sondern die Stadtpolitik, die Gastro-Projekte mit dem Argument fördert, sie würden Viertel "aufwerten". In Wahrheit explodieren die Mieten und die Menschen, die das Viertel geprägt haben, müssen gehen.
Lyon, selbsternannte Welthauptstadt der Kulinarik, hat inzwischen so viele vermeintlich "authentische" Bouchons, dass für anderes Gewerbe kaum Platz bleibt, und auf der Karte stehen längst Crêpes statt Lyonnaiser Spezialitäten.
In Venedig drängen sich Tour-Gruppen in winzige Bacari für eine "ombra con cicchetto", in Dublin hetzen Touristenschwärme beim Pub-Crawl von Pint zu Pint. Und in Barcelona dürfen Gruppen in der Markthalle La Boqueria nur noch zu 14 Leuten rein, sonst wird’s zu voll für die Einheimischen.
Pizza, Sushi, Kebab – alles koscher
Im ehemaligen jüdischen Ghetto Roms verdrängen moderne Lokale mit "koscherem" Sushi oder Burgern traditionelle Trattorien. Und in Turin entstand im Viertel rund um den Markt Porta Palazzo ein glänzender Food-Court, betrieben von einer Privatfirma – nachdem die Stadt öffentliche Räume verfallen ließ.
Für Perruca ein bekanntes Muster: Erst lässt man Viertel verwahrlosen, dann verkauft man sie an Investoren und nennt das Stadtentwicklung.
Vom Geschmack zur Gleichförmigkeit
Selbst jenseits Europas zeigt sich der Trend. In einem Artikel der "New York Times" über Mexiko-Stadt klagt eine Anwohnerin, dass inzwischen überall Cocktailbars, New-York-Style-Restaurants und Läden mit Naturwein seien. Wenn es so weiterginge, würde es dort bald aussehen wie in Manhattan.
Food-Tourismus galt einst als nachhaltig und kulturell wertvoll. Heute aber wirkt es so, als habe selbst der Qualitätstourismus dem Massentourismus die Hand gereicht.
In Bologna zeigt sich das besonders absurd. Dort werden inzwischen Tortellini to go angeboten. Pasta in der Tüte, als Snack auf die Hand. Für die Bologneser, die ihre Nudeln nur am Tisch essen, ist das wohl eine Sünde.