Tja, da stand ich nun, kurz nach 19 Uhr an einem Mittwochabend im kalten Berlin und hatte mich meinem Schicksal ergeben. "Kannst du dir das vorstellen?", hatte mich meine Chefin ein paar Wochen zuvor in einem Meeting gefragt. Und als motivierter Redakteur habe ich natürlich direkt gesagt: "Klar".
Ganz ehrlich? So klar konnte ich mir das nicht vorstellen, was es bedeutet zu einer Chippendales-Show zu gehen. Aber genau dafür ist man ja auch Journalist geworden, um das Neue und Unbekannte zu entdecken und darüber zu berichten. Oder?
Schnitt zum Mittwochabend und der Veranstaltungslocation. Vor dem Tempodrom stehen ein paar Grüppchen gemischten Alters, geschätzt 99 Prozent der Wartenden sind weiblich.
Zwei, die vermutlich in ihren Dreißigern sind, haben spontan Freikarten bekommen. Auf die Frage, was sie erwarten, sagt die eine: "Na, gut durchtrainierte Männerkörper!" Und die andere ergänzt: "Und natürlich eine gute Show". Sie sei schon bei den Sixx Paxx gewesen, einer anderen Stripper-Truppe, und wolle nun mal die Shows vergleichen.
Zwei Mittzwanzigerinnen antworten auf die gleiche Frage: "Wir sind zwei junge Single-Frauen und freuen uns auf ein paar gutaussehende Männer". Und was würden sie davon halten, wenn sie einer der Männer auf die Bühne mitnimmt? "Ach, ich glaube, das ist eher unwahrscheinlich. Da sind so viele Frauen", meint die eine – und soll später eines Besseren belehrt werden.
Die erste Hiobsbotschaft des Abends erhalte ich dann an der Kasse. Insgeheim hatte ich gehofft, als Pressevertreter einen Platz irgendwo an der Seite zu bekommen, damit am Ende nicht doch irgendein Tänzer auf die unwahrscheinliche Idee kommt, mich auf die Bühne zu schleppen.
"Reihe 1, Platz 1. Viel Spaß!", wünscht mir die Dame an der Kasse. Manifestieren kann ich nicht empfehlen.
Eine Viertelstunde später sitze ich in der Front Row und schicke letzte Stoßgebete gen Himmel, während Sean Pauls "Temperature" läuft. Dann geht der Vorhang auf und es beginnt eine zweistündige Show, auf die ich mental in keiner Weise vorbereitet bin.
"BERLIN", ruft ein breit gebauter Mann auf Englisch. Ausverkauft ist die Halle bei Weitem nicht, aber das darauffolgende "WOOOHOOO!" dröhnt trotzdem durch den Raum. Und dann tauchen sie auch schon auf: die Chippendales. Manche der Männer fallen mit Tattoos auf, andere mit langen Haaren oder einer Glatze. Was sie aber alle gemeinsam haben, sind die gestählten Muskeln. Ohne Sixpack kommt man hier nicht auf die Bühne.
Erster Programmpunkt: Stuhlgymnastik. Jeder Chippendale bearbeitet mit Stripper-gerechten Tanzmoves jeweils einen Stuhl. Die Hüften scheinen dabei so gut trainiert zu sein wie die Bäuche.
Szenenwechsel. Als Nächstes geht es auf die Baustelle. Die Outfits der Tänzer bestehen nun aus Boots, Jeans, Warnwesten und schmutzigen, weißen Tank Tops. Ihre Moves werden natürlich nicht weniger sexy. Da folgt ein Body Roll nach dem anderen.
Dann packen die Chippendales auch noch ein paar langstielige Hammer aus und vollziehen sehr eindeutige Bewegungen daran. Gleich darauf muss dann das fleckige Feinripp dran glauben. Die Jungs zerreißen ihr Oberteil und schmeißen es in die jubelnde Menge.
Und dann passiert es: Die Chippendales suchen erste Freiwillige. Kaum flitzen die Männer durchs Publikum, schießt mein Puls nach oben. Die Frauen um mich herum rufen, lachen, klatschen, zappeln.
Plötzlich steht keine zwei Meter von mir entfernt ein Tänzer im Dunkeln. Ich ahne nichts Gutes. Einen Moment später wird er von einem Scheinwerfer angeleuchtet, legt die Hände an die Hose und zieht sie ruckartig aus. Halleluja!
Meine Stoßgebete wurden aber wohl erhört. Sein Höschen behält er nämlich an und verschwindet sehr schnell wieder hinter der Bühne. Dafür sind nun zwei Frauen auf der Bühne gelandet und lassen sich wild auf einem Stuhl betanzen.
Nachdem auch diese Tänzer sich ihrer Hose entledigt haben, geht plötzlich der Vorhang auf und ein splitterfasernackter Chippendale steht unter einer Requisitendusche. Da setzt dann auch bei mir die Schnappatmung ein. Werbeversprechen erfüllt.
Der gute Mann "duscht" sich dann jedenfalls genüsslich auf der Bühne und lässt sich anschließend von einer Dame in den Pyjama helfen, die eine goldene Schärpe mit der Aufschrift "Just divorced" trägt. Good for her, will man sagen.
Als Nächstes wird eine Dating-Show inszeniert. Ein Chippendale stellt drei (mehr oder minder) Freiwilligen jeweils eine Frage, die sie beantworten sollen.
Die Antwort dürfen die Frauen in plastischer Form geben, natürlich mit Unterstützung dreier Tänzer. Bildlich sieht es dann so aus, dass die erste Kandidatin mit ihrem Po auf einem Chippendale herumwackelt. Die zweite begibt sich auf alle Viere und die dritte nutzt ihren Mund, um Safer Sex an einer Banane zu vorzuführen.
Das Cringe-Level ist für mich zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr zu bemessen. Es ist gerade mal eine halbe Stunde vorüber, was kommt da noch auf mich zu?
Drei Minuten später reißen sich die Chippendales die ersten Schlüpfer vom Leib. Es soll nicht das letzte Mal sein. In meinem Kopf hallt nur "Klar, kann ich mir das vorstellen". Alles, was danach kommt, wirkt wie ein Fiebertraum. Als Höhepunkt der ersten Hälfte schlüpfen die Tänzer in Polizeiuniformen und ketten eine Frau aus dem Publikum "Fifty Shades of Grey"-Style an eine Wand. Dry Humping inklusive.
Als der Vorhang zur Pause zufällt, liegen meine Nerven blank. Einzige Erleichterung: Die Strategie, jeglichen Blickkontakt mit den Strippern zu vermeiden, ging auf. Ich bin nicht auf der Bühne gelandet.
In der zweiten Hälfte passiert nicht viel Neues. Die Chippendales ziehen sich hinter der Bühne an, um sich auf der Bühne auszuziehen. Das wird irgendwann ganz schön repetitiv und wenn erst mal die Unterhose geflogen ist, bleibt auch nicht mehr viel zu strippen.
"Sehr enttäuscht", zeigen sich nach der Show die beiden Frauen, die die Chippendales mit den "Sixx Paxx" vergleichen wollten. Die Stimmung sei einfach nicht so gut gewesen wie bei anderen Shows, das Programm insgesamt zu monoton.
Angesichts der dünn besetzten Ränge und der Tatsache, dass viele Frauen, mit denen ich gesprochen habe, Freikarten hatten, stellt sich die Frage, inwieweit solch eine Show noch in die heutige Zeit passt.
Als die Chippendales 1979 gegründet wurden, waren sie die erste rein männliche Tanz- und Striptease-Gruppe, die sich speziell an ein weibliches Publikum richtete. Dieses Alleinstellungsmerkmal haben sie heute längst nicht mehr. Abgesehen von der Striptease-Konkurrenz gibt es mittlerweile Plattformen wie Onlyfans, auf denen ein unbekleideter Mann mit Sixpack nur wenige Klicks entfernt ist. Und dafür muss man meist nicht 60, 70 oder 120 Euro zahlen.
Zumindest für zwei hat sich der Abend am Ende aber gelohnt. "Ich war auf der Bühne", ruft mir beim Rausgehen die Frau zu, die genau das vor der Show noch für sehr unwahrscheinlich gehalten hatte. "Er hat mich ausgesucht", sagt sie euphorisch und wedelt mit einem Foto in der Hand, das direkt nach der Show aufgenommen wurde.
Darauf ist sie mit der gesamten Stripper-Truppe zu sehen. "Alle Erwartungen übertroffen", sagt ihre Freundin, die ebenfalls ein Foto in der Hand hält. Wie viel sie dafür bezahlt haben? "20 Euro". "Ganz schön viel", meine ich. "Ja, aber darüber mache ich mir morgen Gedanken, wenn ich wieder nüchtern bin."
Das zeigt: Die Chippendales mögen in mancherlei Hinsicht zwar aus der Zeit gefallen sein. Im Gegensatz zu Onlyfans-Models können sie ihren Zuschauer:innen aber zwei Stunden Eskapismus mit den Besties bieten – erst recht, wenn man die Show nicht zu ernst nimmt.