Nach der Corona-Pandemie gebe es nur noch drei Sorten von Menschen in Deutschland, mahnte der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn noch im Winter 2021: "Geimpft, genesen oder gestorben".
Heute, zwei Jahre später, ist klar: Das war eine Fehleinschätzung, denn zahlreiche Menschen in Deutschland sind zwar technisch betrachtet "genesen", leiden aber bis heute an den Folgen ihrer Corona-Erkrankung, einige sind dadurch komplett arbeitsunfähig. "Nicht Genesen" nennt sich daher auch die Initiative, die Long-Covid-Betroffenen ein Gesicht gibt und sich für mehr Forschung und Therapiemöglichkeiten einsetzt.
Auch Menschen mit Impfschäden und ME/CFS-Erkrankte (Myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom) engagieren sich bei "Nicht Genesen". Sie alle eint, dass sich offenbar multisystemische Entzündungsprozesse in ihrem Körper abspielen, die noch kaum erforscht, geschweige denn therapierbar sind.
Um das Thema wieder zurück in die Öffentlichkeit zu rücken, wollen die Initiatoren deshalb am Donnerstag 400 Feldbetten vor dem Deutschen Bundestag aufstellen. Jedes mit dem Porträt eines Betroffenen geschmückt, der "Nicht Genesen" ist. Viele Erkrankte müssen große Teile ihres Lebens im Bett verbringen.
Unter den Kranken seien "Triathleten, die plötzlich im Rollstuhl sitzen", "Medizinstudenten, die die Grundrechenarten der ersten Klasse nicht mehr beherrschen" und "Dreizehnjährige, die (...) zur Toilette getragen werden müssen", wie Ricarda Piepenhagen, Gründerin der Initiative, die Situation beschreibt.
Die Initiative "Nicht Genesen" will mit ihrem Protest sichtbar machen, welche Schäden die Pandemie in der Gesellschaft hinterlassen hat und den Forderungen aus ihrer Petition an Bundeskanzler Olaf Scholz Nachdruck verleihen, die bereits über 60.000-mal unterzeichnet wurde. Darin heißt es unter anderem:
Im Bundestag wird heute über einen Antrag der Unionsfraktion zu Hilfen für Betroffene des Chronischen-Fatigue-Syndroms beraten. Rund 40 Prozent der Long-Covid-Betroffenen erfüllen die Diagnosekriterien von ME/CFS, einer schweren neuroimmunologischen Erkrankung, die unter anderem extreme Erschöpfung, Konzentrationsschwäche und Muskelschmerzen zur Folge hat. Der Alltag ist für die Betroffenen kaum noch zu bewältigen.
Rund zehn bis 20 Prozent aller Deutschen sollen im Nachgang ihrer Corona-Erkrankung ebensolche Spätfolgen entwickelt haben, wie die Spezialistin Prof. Carmen Scheibenbogen gegenüber watson berichtete. Sie leitet die Immundefekt-Ambulanz an der Berliner Charité.
Betroffen sind vor allem Frauen, aber auch Männer und Kinder. Das Alter spielt laut derzeitigen Erkenntnissen dabei kaum eine Rolle. Wie unterschiedlich die Gesichter der Opfer sein können und vor allem, wie jung, zeigen wir euch hier.
Bei der Demo vor dem Bundestag finden sich viele der Betroffenen ein, die heute noch unter einer Nachwirkung leiden. Sie sind heute hier, obwohl für sie jeder Gang aus dem Haus extrem mühsam ist.
Catrin leidet seit zwei Jahren unter Post-Covid-Symptomen: Sie erkrankte zweimal an Corona und hat heute immer noch mit kognitiven Störungen zu kämpfen.
Am schlimmsten sei die Hoffnungslosigkeit, erzählt Catrin. "Weil man kein Ziel vor Augen hat. Man weiß nicht, wann es ein Medikament oder eine Therapie geben wird, sondern man kämpft sich von Tag zu Tag." Wie viele andere Long-Covid-Betroffene organisiert sie sich in Selbsthilfegruppen und sucht selber nach Informationen, die ihr helfen könnten. "Aber es ist schon schwierig, als junger Mensch, diese Ungewissheit anzunehmen und den Lebensalltag neu zu gestalten."
Als Vermessungstechnikerin kann sie wegen der Beschwerden nicht mehr arbeiten. Doch Catrin gibt nicht auf. Seit zwei Jahren macht sie Ergo- und Atemtherapie, sie ist in einer Long-Covid-Ambulanz in der Universitätsklinik Jena angebunden und war bereits zweimal zur Reha:
Dieses Jahr will sie mit der beruflichen Wiedereingliederung beginnen, auch wenn sie sich sorgt, wie es klappen wird: "Es wird natürlich eine Herausforderung durch dieses Fatigue, wegen dem man immer zwischendurch Pausen braucht."
Kariem ist erst 36 Jahre alt und hat massive gesundheitliche Probleme. Ob diese bei ihm auf das Post-Vac-Syndrom, oder auf Long-Covid zurückzuführen sind, ist nicht ganz klar. Kariem kann, seit seine Symptome angefangen haben, nicht mehr in seinem Beruf als 3D-Animation-Artist arbeiten und ist seither krankgeschrieben. Seit seiner Blutwäsche im Dezember geht es ihm langsam aber stetig besser. Er ist auf der Demo, um die Lage aller Betroffenen zu verbessern:
Von der Demo erhofft er sich mehr finanzielle Förderung für Studien, eine bessere Vernetzung der Medizin und mehr Anlaufstellen, um Betroffenen besser zu helfen: "Ich würde mir wünschen, dass die Forschungseinrichtungen, die Ärzteschaft und die ganzen partiellen Bemühungen besser miteinander kommunizieren können. Das hakt daran, dass sie dafür keine Finanzierung haben."
Von der Politik ist Kariem bislang eher enttäuscht:
Dabei geht es vielen Menschen so wie Kariem:
Mehrere Abgeordnete sind ebenfalls heute vor Ort und nehmen die Petition entgegen. Einer davon, Erich Irlstorfer, MdB CSU, ist ebenfalls von Long-Covid betroffen. Er zeigt Verständnis für die Anliegen der Demonstrierenden und sagt: "Die Krankheit macht ja nicht bei Parteigrenzen halt. Ich bin optimistisch, dass die Debatte im Bundestag positiv für den Antrag ausfallen wird."
Offenbar ist sie das: Der erfolgreiche Antrag der CDU/CSU-Fraktion wurde im Anschluss an die erste Lesung im Plenum in den federführenden Ausschuss für Gesundheit überwiesen. Dort wird der Gesetzentwurf nun fachlich geprüft und weiterentwickelt.