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Protest vor dem Bundestag: Long-Covid-Betroffene zeigen ihr Gesicht

Auf jedem Feldbett vor dem Bundestag liegt das Gesicht eines Menschen, der unter Nebenwirkungen der Covid-Erkrankung oder -Impfung leidet.
Auf jedem Feldbett vor dem Bundestag liegt das Gesicht eines Menschen, der unter Nebenwirkungen der Covid-Erkrankung oder -Impfung leidet. watson/evelyn pohl
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400 Feldbetten vor dem Bundestag: Long-Covid-Betroffene zeigen Gesicht

19.01.2023, 16:2120.01.2023, 11:41
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Nach der Corona-Pandemie gebe es nur noch drei Sorten von Menschen in Deutschland, mahnte der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn noch im Winter 2021: "Geimpft, genesen oder gestorben".

Heute, zwei Jahre später, ist klar: Das war eine Fehleinschätzung, denn zahlreiche Menschen in Deutschland sind zwar technisch betrachtet "genesen", leiden aber bis heute an den Folgen ihrer Corona-Erkrankung, einige sind dadurch komplett arbeitsunfähig. "Nicht Genesen" nennt sich daher auch die Initiative, die Long-Covid-Betroffenen ein Gesicht gibt und sich für mehr Forschung und Therapiemöglichkeiten einsetzt.

Auch Menschen mit Impfschäden und ME/CFS-Erkrankte (Myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom) engagieren sich bei "Nicht Genesen". Sie alle eint, dass sich offenbar multisystemische Entzündungsprozesse in ihrem Körper abspielen, die noch kaum erforscht, geschweige denn therapierbar sind.

Protest vor dem Reichstag

Um das Thema wieder zurück in die Öffentlichkeit zu rücken, wollen die Initiatoren deshalb am Donnerstag 400 Feldbetten vor dem Deutschen Bundestag aufstellen. Jedes mit dem Porträt eines Betroffenen geschmückt, der "Nicht Genesen" ist. Viele Erkrankte müssen große Teile ihres Lebens im Bett verbringen.

Unter den Kranken seien "Triathleten, die plötzlich im Rollstuhl sitzen", "Medizinstudenten, die die Grundrechenarten der ersten Klasse nicht mehr beherrschen" und "Dreizehnjährige, die (...) zur Toilette getragen werden müssen", wie Ricarda Piepenhagen, Gründerin der Initiative, die Situation beschreibt.

Die Initiative "Nicht Genesen" will mit ihrem Protest sichtbar machen, welche Schäden die Pandemie in der Gesellschaft hinterlassen hat und den Forderungen aus ihrer Petition an Bundeskanzler Olaf Scholz Nachdruck verleihen, die bereits über 60.000-mal unterzeichnet wurde. Darin heißt es unter anderem:

"Wir fordern die Bundesregierung auf, die biomedizinische Forschung zu Long-Covid, ME/CFS und dem Post-Vakzin-Syndrom auszubauen und die staatlichen Fördergelder für weitere klinische Studien und geeignete Therapiemöglichkeiten auf mindestens 100 Millionen Euro für einen Zeitraum von zunächst 24 Monaten zu erhöhen."

Bundestag berät über CFS

Im Bundestag wird heute über einen Antrag der Unionsfraktion zu Hilfen für Betroffene des Chronischen-Fatigue-Syndroms beraten. Rund 40 Prozent der Long-Covid-Betroffenen erfüllen die Diagnosekriterien von ME/CFS, einer schweren neuroimmunologischen Erkrankung, die unter anderem extreme Erschöpfung, Konzentrationsschwäche und Muskelschmerzen zur Folge hat. Der Alltag ist für die Betroffenen kaum noch zu bewältigen.

Rund zehn bis 20 Prozent aller Deutschen sollen im Nachgang ihrer Corona-Erkrankung ebensolche Spätfolgen entwickelt haben, wie die Spezialistin Prof. Carmen Scheibenbogen gegenüber watson berichtete. Sie leitet die Immundefekt-Ambulanz an der Berliner Charité.

Betroffen sind vor allem Frauen, aber auch Männer und Kinder. Das Alter spielt laut derzeitigen Erkenntnissen dabei kaum eine Rolle. Wie unterschiedlich die Gesichter der Opfer sein können und vor allem, wie jung, zeigen wir euch hier.

Die Gesichter der Betroffenen vor Ort

Bei der Demo vor dem Bundestag finden sich viele der Betroffenen ein, die heute noch unter einer Nachwirkung leiden. Sie sind heute hier, obwohl für sie jeder Gang aus dem Haus extrem mühsam ist.

Catrin ist 48 Jahre und kann seit zwei Jahren nicht mehr arbeiten.
Catrin ist 48 Jahre und kann seit zwei Jahren nicht mehr arbeiten.watson/evelyn pohl

Catrin leidet seit zwei Jahren unter Post-Covid-Symptomen: Sie erkrankte zweimal an Corona und hat heute immer noch mit kognitiven Störungen zu kämpfen.

"Ich habe Sehprobleme, ich kann mich noch nicht lange konzentrieren und ich habe durch Covid Asthma bekommen. Außerdem habe ich diese Fatigue, also das Erschöpfungssyndrom. Das heißt, ich muss mich öfters ausruhen und brauche ganz viele Pausen und ich habe enorme Muskelschmerzen. Es gibt Tage, da kann ich vielleicht einen Kilometer laufen."

Am schlimmsten sei die Hoffnungslosigkeit, erzählt Catrin. "Weil man kein Ziel vor Augen hat. Man weiß nicht, wann es ein Medikament oder eine Therapie geben wird, sondern man kämpft sich von Tag zu Tag." Wie viele andere Long-Covid-Betroffene organisiert sie sich in Selbsthilfegruppen und sucht selber nach Informationen, die ihr helfen könnten. "Aber es ist schon schwierig, als junger Mensch, diese Ungewissheit anzunehmen und den Lebensalltag neu zu gestalten."

"Wenn nichts passiert, wird es eine Suizidwelle wegen Long-Covid geben."
Kariem, 36 Jahre, Betroffener

Als Vermessungstechnikerin kann sie wegen der Beschwerden nicht mehr arbeiten. Doch Catrin gibt nicht auf. Seit zwei Jahren macht sie Ergo- und Atemtherapie, sie ist in einer Long-Covid-Ambulanz in der Universitätsklinik Jena angebunden und war bereits zweimal zur Reha:

"Ich nehme sozusagen alles mit, was im Moment angeboten wird. Aber es gibt ja keine Therapie oder Medikamente. Deswegen stehen wir heute hier, um für die Debatte, die dann im Bundestag läuft, zu signalisieren: Wir brauchen mehr Gelder für Forschung, mehr Anbindung, mehr Ambulanzen und das auch flächendeckend im ländlichen Raum, nicht nur in den Großstädten."

Dieses Jahr will sie mit der beruflichen Wiedereingliederung beginnen, auch wenn sie sich sorgt, wie es klappen wird: "Es wird natürlich eine Herausforderung durch dieses Fatigue, wegen dem man immer zwischendurch Pausen braucht."

Kariem ist enttäuscht, dass die Politik bisher so wenig Long-Covid-Betroffenen geholfen hat.
Kariem ist enttäuscht, dass die Politik bisher so wenig Long-Covid-Betroffenen geholfen hat.watson/evelyn pohl

Kariem ist erst 36 Jahre alt und hat massive gesundheitliche Probleme. Ob diese bei ihm auf das Post-Vac-Syndrom, oder auf Long-Covid zurückzuführen sind, ist nicht ganz klar. Kariem kann, seit seine Symptome angefangen haben, nicht mehr in seinem Beruf als 3D-Animation-Artist arbeiten und ist seither krankgeschrieben. Seit seiner Blutwäsche im Dezember geht es ihm langsam aber stetig besser. Er ist auf der Demo, um die Lage aller Betroffenen zu verbessern:

"Ich konnte bis vor ein paar Wochen nicht hier so sitzen und mich unterhalten. Ich hatte eine Toleranzschwelle von ungefähr 10 bis 15 Minuten, die ich mit jemandem reden oder aufs Handy gucken konnte, dann kamen sofort migräneartige Kopfschmerzen. Das verändert sich total krass jetzt gerade und ich gehe davon aus, dass es auch wieder schlechter wird. Ich hatte vorher wirklich Angst. Das kannst du auch nicht einfach abschütteln, wenn dir dann auch noch Leute sagen: 'Es ist eine potenziell unheilbare Krankheit, die Leute in den Rollstuhl bringt.'"

Von der Demo erhofft er sich mehr finanzielle Förderung für Studien, eine bessere Vernetzung der Medizin und mehr Anlaufstellen, um Betroffenen besser zu helfen: "Ich würde mir wünschen, dass die Forschungseinrichtungen, die Ärzteschaft und die ganzen partiellen Bemühungen besser miteinander kommunizieren können. Das hakt daran, dass sie dafür keine Finanzierung haben."

Von der Politik ist Kariem bislang eher enttäuscht:

"Auf der politischen Ebene wird das Ganze überhaupt nicht ernst genommen, weil keiner dafür seinen Kopf hinhalten will."

Dabei geht es vielen Menschen so wie Kariem:

"Das ist echt super tragisch. Es sind wirklich Hunderttausende von Menschen, die absolut keine Ahnung haben, was abgeht. Und mir ging es genauso. Du denkst, dein Leben ist vorbei und es wird jeden Tag schlimmer. Du denkst, du kannst nie wieder arbeiten, irgendwann sitzt du vielleicht im Rollstuhl. Das ist nämlich die Konsequenz irgendwann, da sind hier auch Leute dabei."
Die Initiatorinnen von "Nicht genesen" überreichen vor dem Bundestag ihre Petition an Abgeordnete.
Die Initiatorinnen von "Nicht genesen" überreichen vor dem Bundestag ihre Petition an Abgeordnete.watson/evelyn pohl

Mehrere Abgeordnete sind ebenfalls heute vor Ort und nehmen die Petition entgegen. Einer davon, Erich Irlstorfer, MdB CSU, ist ebenfalls von Long-Covid betroffen. Er zeigt Verständnis für die Anliegen der Demonstrierenden und sagt: "Die Krankheit macht ja nicht bei Parteigrenzen halt. Ich bin optimistisch, dass die Debatte im Bundestag positiv für den Antrag ausfallen wird."

Offenbar ist sie das: Der erfolgreiche Antrag der CDU/CSU-Fraktion wurde im Anschluss an die erste Lesung im Plenum in den federführenden Ausschuss für Gesundheit überwiesen. Dort wird der Gesetzentwurf nun fachlich geprüft und weiterentwickelt.

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