Özil geht, der Hambacher Forst bleibt, Chemnitz schreckt auf – 2018 war turbulent. Auch für uns: watson.de startete im März. Auf einige Geschichten sind wir seitdem besonders stolz. Wie auf diese hier:
Das Wort "Schamlippen" taucht vermutlich zum ersten Mal im Jahr 1789 auf.
Diese Zeilen schrieb damals der Anatom Johann Friedrich Blumenbach in "Anfangsgründe der Physiologie".
Schamlippen. Diesen Begriff gibt es im Jahr 2018 immer noch. So wird ein Teil der weiblichen Geschlechtsteile bezeichnet: Die äußeren und inneren Schamlippen umschließen die Vulva und den Eingang zur Vagina.
Der Begriff leitet sich wie viele medizinische Fachbegriffe aus dem Lateinischen ab, “labium pudendi” – das kommt von labium (Lippe) und pudere (sich schämen.)
Denn es betont ein negatives Gefühl. Die Scham. Wer sich schämt, fühlt sich minderwertig, bloßgestellt, unanständig. Und wenn schon in den Namen für unsere Geschlechtsteile dieses negative Gefühl auftaucht, schreibt es sich auch in unsere Körper ein, in unser Denken und in unser Körpergefühl.
Scham ist ein zutiefst kulturell geprägtes Gefühl, das macht die "Scham" in unseren Geschlechtsteilen deutlich: Damit wird unser Geschlecht mit der Scham markiert. Scham belastet. Selbst wenn wir es im Alltag gar nicht merken. Und sie wirkt sich neben unserem eigenen Körperempfinden auch aus auf das, was wir für "normal" halten, was wir lieber verstecken, oder sogar wegwünschen.
Scham wirkt sich auf unsere Gesundheit aus. Wenn wir Beschwerden nicht ansprechen, sie lieber verheimlichen.
Scham wirkt sich auf unseren Sex aus. Auf den Sex, den wir haben, aber auch auf den, den wir deswegen nicht haben.
Ich habe erst vor kurzem mit einer Gynäkologin einer großen Klinik über das Verhältnis von Frauen zu ihrer Vulva gesprochen und sie sagte:
Scham lässt sich natürlich nicht schnell und einfach abschaffen. Weder per Dekret, noch mit gutem Willen. Das dauert. Und es erfordert viele kleine Schritte.
Einer davon wäre, nicht mehr länger von "SCHAMlippen" zu sprechen.
Der Duden schlägt mir keine Alternative vor.
Wir brauchen also ein neues Wort.
Aber wie erschafft man ein neues Wort? Wie etabliert man einen neuen Begriff? Wie lässt sich "Schamlippen" ersetzen?
Ich habe mich auf Recherche begeben.
Das IDS in Mannheim ist die zentrale außeruniversitäre Einrichtung zur Erforschung der deutschen Sprache.
Ich spreche mit Annette Trabold, Sprachwissenschaftlerin und Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit des Instituts, über mein Anliegen.
Annette Trabold erklärt:
Es gibt Wörter, die fallen aufgrund von politischen oder gesellschaftlichen Veränderungen weitestgehend aus dem aktiven Sprachgebrauch heraus. "Mohr" oder "Fräulein" sind Beispiele dafür. Beides Begriffe, die aufgrund ihrer rassistischen und diskriminierenden Bedeutung aus dem aktiven Wortschatz fast vollständig verschwunden sind.
Auf der anderen Seite etablieren sich auch neue Wörter, sogenannte Neologismen. "Bezahlschranke" oder "entfreunden" sind Begriffe, die sich erst in den vergangenen zehn Jahren etabliert haben.
Das Institut selbst entscheidet dabei weder über das Verschwinden, noch über das Auftauchen neuer Begriffe. Die Wissenschaftler erforschen und dokumentieren den Wandel lediglich.
Das klingt gut, denke ich mir – ist allerdings nicht ganz einfach, wie mir Annette Trabold erklärt:
Wenn sich ein Begriff durchsetzen will, muss er sehr oft Erwähnung finden.
Das ist bei einem Begriff für ein neues Phänomen wie "entfreunden" recht einfach. Schwerer wird es, wenn neue Begriffe alte ersetzen sollen, wie im Fall der "Schamlippen".
Wie oft müsste das neue Wort also erwähnt werden, bis es offiziell wird? Anders gefragt: Wie schaffen wir es mit dem neuen Wort in den Duden?
Der Duden entscheidet zwar ebenfalls nicht über neue Wörter, auch der Duden dokumentiert nur. Aber der Duden gilt als maßgebliche Instanz zur deutschen Sprache. Grund genug also, mit Kathrin Kunkel-Razum, der Leiterin der Dudenredaktion, über mein Anliegen zu sprechen.
Für die Dudenredaktion gilt: Ein Wort muss relativ häufig genutzt werden, in relativ unterschiedlichen Texten und über einen gewissen Zeitraum.
Die Dudenredaktion wertet dazu ihre Datenbank aus, die aus mehr als 4 Milliarden Wortformen besteht – die wiederum aus Romanen, Artikeln, Reden, Anleitungen usw. stammen.
So einfach ist das wirklich nicht, mit den neuen Wörtern.
Für mein neues Wort bedeutet das:
Die Häufigkeit sei aber in unserem Fall, in dem es um eine gesellschaftliche Entwicklung geht, nicht das wichtigste Kriterium. Für uns wäre noch wichtig: in möglichst verschiedenen Bereichen, also auch im medizinischen, vorzukommen. Und, Achtung, es müsste gedruckt werden.
Aber welches Wort wollen wir überhaupt neu etablieren?
Annette Trabold hat mir erklärt, dass ich ein Wort erfinden müsste. Ich fange zunächst an zu googlen: Gibt es außerhalb des Dudens bereits Alternativen? Und ja, die gibt es tatsächlich.
Im Wikipedia-Eintrag zu "Schamlippe" und auf einer Seite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung taucht der Begriff "Venuslippen" auf.
Venuslippen? Lieber nicht.
Venus war die römische Göttin der Liebe und Schönheit. Liebe und Schönheit? Damit ist der Körperteil ja wieder mit einem wertenden Begriff besetzt. Nicht mit Scham, aber mit Schönheit. Dabei geht es ja darum, Namen für unsere Geschlechtsteile zu finden, die weder mit Scham noch mit Schönheit in Zusammenhang stehen.
Sondern neutral sind. Schlicht und einfach.
Ich suche also weiter. Und spreche mit der Journalistin und Autorin Mithu Sanyal. Sie hat ein Buch über die Kulturgeschichte des weiblichen Genitals geschrieben ("Vulva – die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts") und ich frage sie: Wie wäre es eigentlich mit dem Begriff "Vulvalippen"?
Mithu Sanyal sagt:
Wir bei watson.de haben bereits alle Erwähnungen von "Schamlippe" durch "Vulvalippe" ersetzt.
Schluss mit der Scham!