Interview
10.10.2018, 18:5304.03.2019, 12:22
Scham
ist ein sehr hartnäckiges Gefühl. Es überlebt Aufklärung, es überlebt
Tabubrüche, und es ist selbst dann noch quicklebendig, wenn wir glauben, es
wäre längst mausetot.
Wo
Scham zuverlässig auftaucht: Wenn es um die weiblichen Geschlechtsteile geht. Um
Vulva, um Vagina, und um Periode, um Verhütung, um Sex.
Viele
Frauen wissen sehr wenig über ihre Geschlechtsteile.
Zwei
Beispiele:
- Eine britische Krebshilfeorganisation führte vor zwei Jahren eine Umfrage unter 1000 Frauen zu dem Thema durch. Den Befragten wurde eine Grafik vorgelegt, die sie anatomisch korrekt beschriften sollten. Doch wo zum Beispiel die Vagina genau liegt, wusste nur die Hälfte der Frauen.
- In einer Studie der Tufts University von 2014 wurden 500 Frauen nach ihren Kenntnissen des weiblichen Fortpflanzungsapparats befragt. Ob die Entfernung der Gebärmutter zu Veränderungen bei den Wechseljahren führen würde, konnte dabei nur ein Drittel der Frauen richtig beantworten.
Viele Frauen wissen wenig über ihre Genitalien, einige schämen
sich dafür, manche ekeln sich sogar. Das betrifft nicht nur ältere Frauen,
nicht nur Frauen aus sogenannten bildungsfernen Schichten. Auf diese
Unsicherheiten trifft man bei jungen und alten Frauen, Akademikerinnen,
Müttern, Schülerinnen.
Warum
wissen viele Frauen so wenig über ihre Anatomie?
Andrea
Hocke leitet die gynäkologische Psychosomatik am Universitätsklinikum Bonn. Das
heißt, sie beschäftigt sich sowohl mit gynäkologischen Aspekten, aber auch mit
dem psychischen Befinden von Patientinnen, zum Beispiel während der
Schwangerschaft, der Entbindung, aber auch bei sexuellen Störungen. In ihre
Klinik kommen Frauen mit Wochenbettdepressionen, Menstruationsbeschwerden, oder Eierstockzysten.
Sie
sagt:
"Ich arbeite seit fast 30 Jahren in der Gynäkologie und erlebe immer wieder, dass das Thema für viele Frauen tabu ist."
Andrea Hocke
Sexuelle
Funktionsstörungen, Geschlechtskrankheiten und andere gynäkologische
Beschwerden sind Hockes Beruf – die Scham ist es daher auch. Der Umgang mit
ihr. Andrea
Hocke erlebt junge Frauen, die fürchten, ein Tampon zu "verlieren" oder beim
Sex "zu weit" für einen Penis zu sein. Frauen, denen schon die Bezeichnung ihrer
Geschlechtsteile Unbehagen bereitet, die verniedlichend "Muschi" oder gar "Fotze" sagen. Frauen, die sich noch nie getraut haben, einen Spiegel
in die Hand zu nehmen, die Beine zu spreizen und sich ihre Vulva anzuschauen.
Oder sie anzufassen.
Noch
ein Beispiel:
Eine
Mitarbeiterin von Andrea Hocke berichtete von einer Patientin, die gestand,
immer besonders viel Toilettenpapier zu nutzen, sowie Tampons mit Einführhilfe,
um nicht in Berührung mit ihrer Vulva zu kommen. Die Frau war Ende 20 und hatte
auch einen Partner, mit dem sie Sex hatte. Aber zu ihrem Geschlechtsteil hatte
sie keinerlei Bezug.
Warum ist das weibliche
Geschlechtsorgan so ein Tabu? In Zeiten, in denen wir uns selbstverständlich
für aufgeklärt halten, in denen man in Kneipen Kondome ziehen und im Dildo-Online-Shop sexy
Spielzeug für sie und ihn bestellen kann?
Die
Scham um das weibliche Geschlechtsteil wurde über Jahrhunderte antrainiert. Es
galt als unrein, minderwertig und potenziell gefährlich. Und da Scham ein
hartnäckiges Gefühl ist, hält sie sich auch trotz vermeintlicher Aufgeklärtheit
so tapfer: "Wir haben in der Gesellschaft weniger Probleme, über den Penis zu
reden, als über die Scheide," sagt auch Andrea Hocke. Sie erlebt es jeden Tag
in ihrer Praxis.
"Wenn ich dann Patientinnen frage, ob sie sich schon mal selber angeschaut haben, sind sie oft zunächst peinlich berührt und schauen mich überrascht an."
Andrea Hocke
Selbst
Ärzte hätten teilweise Probleme, die Vagina in Patientengesprächen klar zu
benennen. Medizin- oder Psychologiestudium hin oder her.
Die
Distanz, die Unkenntnis und das Unbehagen sind aus mehreren Gründen
problematisch.
- Sie erschweren die medizinische Diagnose. Symptome richtig beschreiben zu können, überhaupt zu erkennen, dass etwas nicht stimmt, ist wichtig. Ein Beispiel: Manche Frauen leiden an Vaginismus, wo es zu Schmerzen beim Geschlechtsverkehr kommt. Wenn Frauen diese Schmerzen nicht richtig zuordnen und beschreiben können, weil sie ihre Anatomie nicht kennen, kann ihnen schwerer geholfen werden.
- Sie wirken sich auf die Sexualität aus. Gynäkologische Gesundheit und Sexualität liegen eng beieinander. Es gibt etliche Studien, die zeigen, wie sich Scham über den eigenen Körper negativ auf sexuelle Zufriedenheit, Abenteuerlust aber auch Verhütung auswirkt. Wer sich für seine Vulva und Vagina schämt, der traut sich bestimmte Sexualpraktiken nicht zu. Und der traut sich womöglich auch nicht zu, auf Verhütung zu bestehen, zeigen diese Studien. Und dabei bleibt nicht nur zufriedenstellender Sex auf der Strecke, sondern zuweilen auch die Gesundheit.
Das
zeigt auch eine Studie der Indiana University von 2010, die den Zusammenhang von Scham über die eigenen
Geschlechtsteile und sexueller Zufriedenheit untersucht hat.
"Unwohlsein mit den eigenen Genitalien könnte vermindert werden, wenn man Frauen viele verschiedene Arten des Geschlechtsteils zeigt – in Bezug auf Größe, Farbe und Formen – um ihnen zu zeigen, dass sie nicht von der Norm abweichen und dass es kein Ideal gibt.”
Auszug aus der Studie
Wie
kann man Frauen die Scham nehmen?
Andrea
Hocke versucht es mit Offenheit. Und einem Spiegel.
“Wir haben einen Spiegel in der Sprechstunde, und ich bitte Patientinnen manchmal, mir konkret zu zeigen, wo ihre Schmerzen sind.”
Andrea Hocke
Das Thema werde jedoch so
tabuisiert, dass es selbst aus dem Mund einer Autoritätsperson wie einer
Ärztin, als große Überraschung wahrgenommen wird.
Andrea
Hocke versucht, entspannt mit den Frauen über ihr Sexleben zu sprechen. "Viele
fangen von sich aus an zu erzählen und sind lernwillig, wenn sie merken, dass
man ihnen offen begegnet." Oft erlebe sie auch Erleichterung: "Endlich fragt
mal jemand!"
Man
könne Frauen die Scham nehmen, in dem man klarstelle, dass sie nicht alleine
mit ihren Problemen sind, sagt Hocke. Sie beginnt Gespräche oft mit Sätzen wie: "Das Problem haben viele Frauen" oder: "Ich habe viele Patientinnen, denen es
so geht."
Wer
merkt, dass er nicht alleine mit einem Problem ist und wer merkt, dass es kein
natürliches Schönheitsideal für Vulva und Vagina gibt, der kann die Scham
abbauen. Dabei kann auch das genaue und liebevolle Betrachten der eigenen
Geschlechtsteile helfen.
So absurd werden die Körper von Stars online fertig gemacht:
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So absurd werden die Körper von Stars online fertig gemacht:
Jaja. Stefanie Giesinger ist vielen zu dünn.
(Quelle: Instagram Kommentare)
quelle: instagram montage