Scham ist ein sehr hartnäckiges Gefühl. Es überlebt Aufklärung, es überlebt Tabubrüche, und es ist selbst dann noch quicklebendig, wenn wir glauben, es wäre längst mausetot.
Wo Scham zuverlässig auftaucht: Wenn es um die weiblichen Geschlechtsteile geht. Um Vulva, um Vagina, und um Periode, um Verhütung, um Sex.
Viele Frauen wissen sehr wenig über ihre Geschlechtsteile. Zwei Beispiele:
Viele Frauen wissen wenig über ihre Genitalien, einige schämen sich dafür, manche ekeln sich sogar. Das betrifft nicht nur ältere Frauen, nicht nur Frauen aus sogenannten bildungsfernen Schichten. Auf diese Unsicherheiten trifft man bei jungen und alten Frauen, Akademikerinnen, Müttern, Schülerinnen.
Warum wissen viele Frauen so wenig über ihre Anatomie?
Andrea Hocke leitet die gynäkologische Psychosomatik am Universitätsklinikum Bonn. Das heißt, sie beschäftigt sich sowohl mit gynäkologischen Aspekten, aber auch mit dem psychischen Befinden von Patientinnen, zum Beispiel während der Schwangerschaft, der Entbindung, aber auch bei sexuellen Störungen. In ihre Klinik kommen Frauen mit Wochenbettdepressionen, Menstruationsbeschwerden, oder Eierstockzysten.
Sie sagt:
Sexuelle Funktionsstörungen, Geschlechtskrankheiten und andere gynäkologische Beschwerden sind Hockes Beruf – die Scham ist es daher auch. Der Umgang mit ihr. Andrea Hocke erlebt junge Frauen, die fürchten, ein Tampon zu "verlieren" oder beim Sex "zu weit" für einen Penis zu sein. Frauen, denen schon die Bezeichnung ihrer Geschlechtsteile Unbehagen bereitet, die verniedlichend "Muschi" oder gar "Fotze" sagen. Frauen, die sich noch nie getraut haben, einen Spiegel in die Hand zu nehmen, die Beine zu spreizen und sich ihre Vulva anzuschauen. Oder sie anzufassen.
Noch ein Beispiel:
Eine Mitarbeiterin von Andrea Hocke berichtete von einer Patientin, die gestand, immer besonders viel Toilettenpapier zu nutzen, sowie Tampons mit Einführhilfe, um nicht in Berührung mit ihrer Vulva zu kommen. Die Frau war Ende 20 und hatte auch einen Partner, mit dem sie Sex hatte. Aber zu ihrem Geschlechtsteil hatte sie keinerlei Bezug.
Warum ist das weibliche Geschlechtsorgan so ein Tabu? In Zeiten, in denen wir uns selbstverständlich für aufgeklärt halten, in denen man in Kneipen Kondome ziehen und im Dildo-Online-Shop sexy Spielzeug für sie und ihn bestellen kann?
Die Scham um das weibliche Geschlechtsteil wurde über Jahrhunderte antrainiert. Es galt als unrein, minderwertig und potenziell gefährlich. Und da Scham ein hartnäckiges Gefühl ist, hält sie sich auch trotz vermeintlicher Aufgeklärtheit so tapfer: "Wir haben in der Gesellschaft weniger Probleme, über den Penis zu reden, als über die Scheide," sagt auch Andrea Hocke. Sie erlebt es jeden Tag in ihrer Praxis.
Selbst Ärzte hätten teilweise Probleme, die Vagina in Patientengesprächen klar zu benennen. Medizin- oder Psychologiestudium hin oder her.
Die Distanz, die Unkenntnis und das Unbehagen sind aus mehreren Gründen problematisch.
Das zeigt auch eine Studie der Indiana University von 2010, die den Zusammenhang von Scham über die eigenen Geschlechtsteile und sexueller Zufriedenheit untersucht hat.
Wie kann man Frauen die Scham nehmen? Andrea Hocke versucht es mit Offenheit. Und einem Spiegel.
Das Thema werde jedoch so tabuisiert, dass es selbst aus dem Mund einer Autoritätsperson wie einer Ärztin, als große Überraschung wahrgenommen wird.
Andrea Hocke versucht, entspannt mit den Frauen über ihr Sexleben zu sprechen. "Viele fangen von sich aus an zu erzählen und sind lernwillig, wenn sie merken, dass man ihnen offen begegnet." Oft erlebe sie auch Erleichterung: "Endlich fragt mal jemand!"
Man könne Frauen die Scham nehmen, in dem man klarstelle, dass sie nicht alleine mit ihren Problemen sind, sagt Hocke. Sie beginnt Gespräche oft mit Sätzen wie: "Das Problem haben viele Frauen" oder: "Ich habe viele Patientinnen, denen es so geht."
Wer merkt, dass er nicht alleine mit einem Problem ist und wer merkt, dass es kein natürliches Schönheitsideal für Vulva und Vagina gibt, der kann die Scham abbauen. Dabei kann auch das genaue und liebevolle Betrachten der eigenen Geschlechtsteile helfen.