
Ist der Stillstand auf den Gleisen ein Resultat aus zu wenig Bewegung in der Politik?Bild: Getty Images / horstgerlach
Analyse
Für viele ist Bahnfahren in Deutschland frustrierend. Woran liegt das – und was muss sich ändern? Der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Matthias Gastel, spricht über die strukturellen Probleme.
18.08.2025, 07:3218.08.2025, 07:32
Während in anderen Ländern Anschlüsse fast ohne Probleme erreichbar sind und das Netz verlässlich ist, scheint in Deutschland vieles nicht zu funktionieren. Woran liegt das eigentlich? Darüber haben wir bereits mit der Deutschen Bahn gesprochen. Der Konzern sieht das Versagen bei der Infrastruktur und Politik.
Zuletzt überschlugen sich die Ereignisse: Nachdem der jahrelange Bahnchef Richard Lutz frühzeitig seinen Posten abgeben musste, kündigte Verkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) neue Pläne der Bundesregierung an, die am 22. September bekannt gegeben werden. Der Aufsichtsrat werde sorgfältig entscheiden, ohne einen Schnellschuss. Es brauche einen Neuanfang.
Watson hat mit Matthias Gastel über den politischen Einfluss im Bahnsystem gesprochen. Er ist Bahnexperte der Grünen im Bundestag und ehemaliges Mitglied im Aufsichtsrat der DB InfraGO. Zusätzlich werfen wir einen Blick in die aktuelle Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats beim Verkehrsministerium.
Zug zu spät, Anschluss weg
Mehr als jeder dritte Fernzug der Deutschen Bahn war im vergangenen Jahr zu spät: 37,5 Prozent der Halte wurden mit einer Verspätung von mehr als rund sechs Minuten erreicht. 62,5 Prozent der ICE- und IC-Züge seien pünktlich gewesen, teilte ein Sprecher des Unternehmens der Tagesschau mit. Damit war die Deutsche Bahn so unpünktlich wie seit 21 Jahren nicht mehr.
Matthias Gastel fährt selbst viel mit dem Zug: "Ich stelle fest, dass die Züge unpünktlicher geworden sind in den letzten Jahren. Und ich stelle auch fest, dass es Mängel beim Service gibt." Keine funktionierenden Steckdosen, mieses WLAN, nicht nutzbare Toiletten oder geschlossene Boardbistros: "Bei einem Zug, mit dem man stundenlang unterwegs ist, muss man sich eigentlich darauf verlassen können, dass es zumindest ein Angebot an Getränken und an Essen gibt."
Der vom Politiker geschilderte Fall steht für viele exemplarisch. Auf dem Heimweg von Berlin verpasst er in Mannheim seinen Anschlusszug: "Wegen 20 Sekunden. Ich war fast drin, die Türen gingen vor mir zu. Der Zug fuhr ab. Das darf nicht sein."
Deutschland: eine Bahn, zwei Märkte
Wieso es bei der Bahn nicht ganz rund läuft, lässt sich nicht simpel erklären. Es ist ein kompliziertes System aus Verantwortungen, Geldflüssen und politischen Entscheidungen.
Zwei große Bereiche müssen im Personenverkehr unterschieden werden: der Fern- und der Regionalverkehr. Im Fernverkehr agiert die Deutsche Bahn wie ein Unternehmen im Wettbewerb: Wenn jemand vier Wochen im Voraus bucht, kostet die Fahrt 38 Euro. Wer am Vortag bucht, zahlt 98 Euro. "Die Ticketpreise im Fernverkehr legen die Bahnunternehmen fest, nicht die Politik", erklärt Gastel. Klassisches Marktprinzip: Angebot, Nachfrage und Wettbewerb. Auch die Konkurrenz, etwa Flixtrain, orientiere sich an der Strategie.
"Wenn Fahrgäste wegen einer Minute Verspätung eine Stunde verlieren, läuft was falsch."
Matthias Gastel, Die Grünen
Was die Politik tun kann? Laut Gastel vor allem über das sogenannte Trassenpreissystem Einfluss nehmen: "Die Deutsche Bahn konzentriert sich nach dem Verkauf einiger Auslandsgeschäfte wieder stärker auf Deutschland – das ist gut. Jetzt müssen wir die Trassenpreise senken, um Spielräume für günstigere Tickets und neue Verbindungen zu schaffen, auch in ländlichen Räumen."
Die DB InfraGO AG ist eine Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn und betreibt das Schienennetz in Deutschland. Sie befindet sich vollständig im Eigentum des Bundes – ist also staatlich. Der Bund trägt maßgeblich die Finanzierung von Ausbau, Erhalt und Instandhaltung des Netzes. Die Trassenpreise – also die Gebühren für die Nutzung der Schienen – werden politisch mitbestimmt: durch gesetzliche Vorgaben des Bundes und die Regulierung durch die Bundesnetzagentur.
Niedrigere Trassenpreise sollen Bahnangebote attraktiver machen – besonders im Güterverkehr, wo die Einnahmen für das System entscheidend sind. Heißt: Je mehr Güterverkehr wieder auf der Schiene stattfindet, umso günstiger können die Trassenpreise gestaltet werden. Im Umkehrschluss kann auch der Personenverkehr davon profitieren.
Zwar legen Bahnunternehmen Preise und Angebote selbst fest, doch niedrigere Gebühren schaffen finanzielle Spielräume. Einnahmenausfälle bei der Infrastrukturtochter DB InfraGO müsste der Staat für das Schienennetz ausgleichen. Das ist noch keine Garantie, dass Bahnfahren für den Personenverkehr günstiger wird, ist jedoch ein politischer Ansatz, um in Zukunft etwas zu ändern.
Ein Unternehmen zwischen den Stühlen
Ein besonders heikler Punkt: die Sicherung von Anschlussverbindungen. Der Netzbetreiber (heute DB InfraGO) steht im Dienste aller Eisenbahnverkehrsunternehmen und damit auch derer Kund:innen, agiert aber laut Gastel nicht im Interesse der Fahrgäste. Die wollen verlässlich von einem Zug in den anderen umsteigen können. "Das kann der Infrastrukturbetreiber am besten koordinieren, da er die Ein- und Ausfahrsignale stellt", sagt er.
"DB InfraGO hat sich aus der Anschlusssicherung zurückgezogen. Das halte ich für einen Skandal." Seine Forderung: gesetzliche Verpflichtung zur Anschlusssicherung. Diese Kritik habe er auch schon in seiner Zeit im Aufsichtsrat geübt: "Die Deutsche Bahn ist ein Staatsunternehmen – da ist es meine Aufgabe, auch als ehemaliger Aufsichtsrat – in Gremien, über persönliche Kontakte ins Management wie auch öffentlich, Missstände zu benennen."
Die fehlende Anschlusssicherung ist der Grund, warum Bahnfahren aktuell zum Chaos werden kann. "Wenn Fahrgäste wegen einer Minute Verspätung eine Stunde verlieren, läuft was falsch", sagt Gastel.
Zu viele Baustellen, zu wenig Planung
Das geplante Sanierungsprogramm ist laut Gastel zwar dringend notwendig – doch es fehlt an verlässlicher, langfristiger Finanzierung. Der Bund stellt bis 2027 rund 27 Milliarden Euro bereit, die Bahn steuert drei Milliarden bei. "Doch das reicht hinten und vorne nicht. Aus- und Neubauprojekte sind akut gefährdet." Was danach kommt, ist gänzlich unklar.
Der Politiker fordert deshalb einen echten Schienenfonds, wie es ihn etwa in der Schweiz oder in Österreich gibt. Nur so lasse sich Planungssicherheit für Großprojekte schaffen – über Jahre hinweg und flexibel genug, um Mittel dort einzusetzen, wo sie gerade am dringendsten gebraucht werden.
Qualität vor Quantität
Zuerst Zuverlässigkeit, dann Wachstum – das fordert der Wissenschaftliche Beirat. Pünktlichkeit, kürzere Reisezeiten und verlässliche Anschlüsse müssten Vorrang haben, bevor man über den Ausbau nachdenkt. Der Bund soll laut Beirat wieder das Steuer übernehmen – mit eigener Koordinierungsstelle. Auch die Trassenpreise könnten zur Steuerung genutzt werden, sofern die Politik mitspielt.
Zudem braucht es mehr Flexibilität – etwa durch zusätzliche Weichen, Gleiswechselbetrieb und vor allem verkürzte Blockabstände. Bislang darf in jedem Streckenabschnitt (Block) nur ein Zug fahren. Mit moderner digitaler Technik können Züge aber enger hintereinanderfahren, weil sie direkt miteinander kommunizieren und ihre Geschwindigkeit anpassen. So passt mehr Verkehr aufs Gleis – und das System wird zuverlässiger.
"Wenn die Bahn verlässlicher wird, steigen die Leute auch vom Auto auf die Bahn um", ist sich Gastel sicher. Aber auch das Deutschlandticket, der große Hoffnungsträger für den öffentlichen Verkehr, steht auf der Kippe.
"Es ist erbärmlich, dass wir noch keine dauerhafte Finanzierung mit den Ländern hinbekommen haben", sagt Gastel. "Das Ticket ist ein riesiger Erfolg, aber viele Unternehmen bieten es ihren Beschäftigten nicht an, weil sie nicht wissen, ob es nächstes Jahr noch existiert."
Gastel sagt: "Mein Wunsch für 2030 ist, dass das Schienennetz so saniert ist, dass deutlich weniger Störungen auftreten." Bis dahin bleibt vielen nur eins: tief durchatmen, Verspätung einplanen und hoffen, dass der nächste Zug nicht wegen 20 Sekunden davonfährt.