Die Gletscher in der Arktis schmelzen schneller als gedacht, der Meeresspiegel steigt, die Temperaturen ebenfalls – und zu allem Überfluss verpulvert Deutschland sein noch verbliebenes CO2-Budget viel zu schnell. Das 1,5 Grad-Ziel rückt in die Ferne, immer weiter, immer schneller.
Oder etwa nicht?
Immerhin haben sich alle demokratischen Parteien im Wahlkampf demonstrativ zum Ziel des Pariser Klimaabkommens von 2015 bekannt, die Erderwärmung auf möglichst 1,5 Grad und deutlich unter zwei Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen. Klimawissenschaftlerinnen und Meteorologen bemängeln jedoch schon jetzt, dass die Pläne der neuen Ampel-Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP nicht ausreichen würden, um die Klimaziele zu erreichen.
Was waren 2021 die Meilensteine in puncto Klimapolitik? Welche Entwicklungen waren besonders besorgniserregend, welche machen Hoffnung? watson hat bei Experten und Aktivisten nachgefragt.
"Die Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre steigt trotz aller Klimaschutzversprechungen immer weiter an", sagt Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der HTW und Mitbegründer von "Scientists For Future", einem Zusammenschluss von Wissenschaftlern, die das Thema Klimaschutz in den Fokus rücken wollen, gegenüber watson. "Auch im Jahr 2022 wird sich darum die negative Entwicklung fortsetzen."
Schon 2021 sei geprägt gewesen von klimabedingten Ereignissen: Extremhochwasser, Hitze, durch Dürre verursachtes großflächiges Waldsterben. "Wirklich überraschend ist diese Entwicklung nicht", erklärt Quaschning gegenüber watson. "Viele Studien haben vor solchen Ereignissen schon länger gewarnt." Hinzu kommt:
"Wirklich große Erfolge hat die Klimapolitik leider nicht aufzuweisen", sagt Quaschning. Immerhin habe die neue Bundesregierung einige Verbesserungen in Aussicht gestellt. Trotz allem sei der Koalitionsvertrag hinsichtlich Klimaschutz "deutlich" hinter den Erwartungen zurückgeblieben. "Wir haben in Deutschland immer noch keine Klimaschutzpolitik, die eine Klimaneutralität im Jahr 2035 und das Einhalten des Pariser Klimaschutzabkommens zum Ziel hat. Die Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor sind seit 1990 praktisch nicht gesunken." Und dennoch: Ein Tempolimit oder ein Verbot von Verbrennermotoren stünden auch in den nächsten vier Jahren nicht auf der politischen Agenda.
Carla Reemtsma, Klimaschutzaktivistin von Fridays for Future (FFF) bemängelt die deutsche Verkehrspolitik gegenüber watson ebenfalls:
Es sei ein "riesiges Versäumnis, dass Deutschland nicht international Verantwortung" übernehme, so Reemtsma. "Deutschland ist, historisch betrachtet, das Land mit den sechstmeisten Emissionen und hat einen Großteil seines Wohlstandes auch durch die Ausbeutung von Ländern des Globalen Südens erwirtschaftet."
Dass Deutschland es nicht schaffe, einen angemessenen Beitrag zur internationalen Klimafinanzierung zu leisten und seine Emissionen "ernsthaft im Einklang mit dem 1,5 Grad-Ziel" zu reduzieren, zeige, "dass hier noch immer nicht richtig angekommen ist, wie eigentlich Verantwortung übernommen werden müsste. Immerhin ist Deutschland krass verantwortlich dafür, wie schlimm die Klimakatastrophe jetzt schon ist."
Die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) geht für 2021 von einer globalen Durchschnittstemperatur von 1,09 Grad über dem Niveau von 1850 bis 1900 aus. In Deutschland liegt die Durchschnittstemperatur sogar bei 1,6 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter. Vorhergesagt wurde diese Entwicklung bereits seit Längerem. Frank Hilgenfeld, Sprecher der deutschen Klimaschutzorganisation German Zero, zählt gegenüber watson weitere klimatische Entwicklungen auf:
Hinzu kommt: Der globale Meeresspiegel ist um 42 Zentimeter angestiegen, was mit der Eisschmelze und der Ausdehnung des Salzwassers durch die Erderwärmung zusammenhängt. Starkregentage haben um 5 Prozent zugenommen, Hitzetage um 196 Prozent. Tendenz steigend.
Zum ersten Mal seit Beginn der Aufzeichnungen hat es am höchsten Punkt des grönländischen Eisschildes geregnet statt geschneit. Die WMO verweist auf verheerende Folgen: Durch Dürren und Überflutungen würden Millionen von Menschen ihre Ernten – und damit ihre Lebensgrundlage – verlieren. Die Zahl der Hungernden steigt. Die Zahl der Flüchtenden ebenfalls. Was 2022 kommt? Die Tendenzen sind klar, aber eine genaue Vorhersage bleibt schwierig, denn auch der Wetterzufall spielt eine große Rolle.
Aber es ist nicht alles schlecht. "In Deutschland gibt es inzwischen eine sehr starke Klimaschutzbewegung, die auch durch die Coronakrise nicht an Kraft verloren hat", betont Volker Quaschning. "Das gibt Hoffnung." Dennoch hätte die Coronakrise gezeigt, "dass in Deutschland wissenschaftsfeindliche Tendenzen zunehmen und sich auf alternativen Fakten basierende Parallelwelten entwickeln" würden. "Das lässt befürchten", so Quaschning, "dass auch sinnvolle und notwendige Klimaschutzmaßnahmen auf erhebliche Widerstände treffen werden."
Als Erfolg der Klimaschutzbewegung wertet Carla Reemtsma unter anderem den Kohleausstieg, der laut Koalitionsvertrag der Ampelparteien "idealerweise" 2030 erfolgen soll. "Und vor allem auch, dass mindestens fünf der sechs bedrohten Dörfer im Rheinland bleiben und nicht abgebaggert werden, obwohl das bis vor Kurzem geplant war", sagt Reemtsma. Positive Dinge zu benennen empfindet sie aber prinzipiell als schwierig:
Umso mehr Hoffnung gebe es ihr, positive Entwicklungen zu sehen, die aus der Klimaschutzbewegung und der Gesellschaft kommen. "Daran erkennt man den Wunsch und das Bewusstsein der Menschen nach einem Strukturwandel. Ich habe das Gefühl, dass dieses Bewusstsein bei den Menschen viel mehr vorhanden ist, als bei den politischen Entscheidungsträgern angekommen ist."
Frank Hilgenfeld von German Zero schöpft "ironischerweise" aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts Hoffnung, das die Bundesregierung zur Nachschärfung ihrer Klimaziele getrieben hat. "Auch die Beschlüsse auf der COP26 sind ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, da beispielsweise das erste Mal das Auslaufen von Kohleverstromung explizit in einem Abschlussdokument genannt wurde." Den Vorzug des Kohleausstiegs in das Jahr 2030 benennt er ebenfalls als positive Entwicklung.
Das Problem: "Besorgniserregend ist das weiterhin wenig ausgeprägte Verständnis, wie drastisch wir als Land und Weltgemeinschaft von einer 1,5 Grad-Politik entfernt sind. Das Thema bleibt ein abstraktes, nur die Krisen sind greifbar. Und das macht die politische Umsetzung nicht leicht", so Hilgenfeld.
"Also zuallererst sollte Deutschland ein 1,5 Grad-konformes Budget aufstellen", erklärt Carla Reemtsma von FFF. "Nur, wenn wir ein 1,5 Grad-konformes Budget haben, an dem wir unsere Politik bemessen, können wir überhaupt erst sagen, ob wir 1,5 Grad-konform agieren." Sie fordert außerdem: Raus aus der Kohle bis 2030, bis spätestens 2035 auch aus dem Erdgas. "Es ist klar, dass keine neuen Erdgas-Infrastrukturprojekte gebaut werden dürfen – also weder Pipelines, noch Kraftwerke."
Außerdem dürften fossile Energien nicht länger subventioniert werden. Stattdessen müssten die erneuerbaren Energien zügig ausgebaut werden. "Im Bereich Verkehr müssen wir ab 2025 weg von den Verbrennermotoren, gleichzeitig können wir auch nicht inmitten der Klimakrise neue Autobahnen oder Bundesstraßen bauen. Diese Projekte gehören überprüft und gestoppt." Im Austausch dafür müsste der Öffentliche Nahverkehr (ÖPNV) sowie die Rad-Infrastruktur ausgebaut werden.
Die Hoffnung, das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen ist noch nicht aus der Welt. Die Weichen sind auf Klimakurs gestellt. Reichen tut das nicht. "Deutschland hat in dieser Legislaturperiode noch die Chance, die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen", sagt Frank Hilgenfeld. "Dafür muss die neue Bundesregierung jetzt anfangen zu handeln."