Wie wollen, wie können wir in Zukunft leben, wenn unsere Erde aufgrund der Klimakrise immer schwieriger bewohnbar sein wird? Die Machthaber Saudi-Arabiens behaupten, auf diese Frage eine Antwort zu haben.
Neom ist eine Modellstadt, deren zentrales Element The Line sein soll. Es ist die verrückteste City, die die Welt je gesehen hat. Im Positiven, weil viele Aspekte einzigartig, neu, klimaneutral und mutig klingen. Im Negativen, weil die Mega-City der Zukunft viele Schattenseiten hat. Hinzu kommt: Aktuell deutet einiges darauf hin, dass das Projekt zum Reinfall wird, da der Bau ins Stocken geraten ist.
Watson hat für euch die Pläne analysiert.
The Line soll aus einem einzigen Gebäude bestehen: 200 Meter breit, 170 Kilometer (!) lang und 500 Meter hoch.
Der Bau entsteht auf einer Fläche von 34 Quadratkilometern und soll neun Millionen Menschen Platz bieten. Zum Vergleich: München ist die am dichtesten bevölkerte deutsche Stadt und ist knapp zehnmal so groß – bei 1,5 Millionen Einwohner:innen.
Die enorme Bevölkerungsdichte in Neom ergibt sich aus der Höhe des Gebäudes. Größer sind auf der Welt aktuell nur elf Hochhäuser.
Die Stadt entsteht im Nordwesten Saudi-Arabiens und beginnt am Golf von Akaba, führt durch die Wüste bis in die Berge des Landes.
Im Jahr 2030 sollen die ersten Menschen in The Line leben, die komplette Fertigstellung ist für 2045 geplant. Offiziell will Saudi-Arabien 500 Milliarden Euro in Neom investieren, 40 Prozent davon entfallen auf The Line.
"The Line ist eine zivilisatorische Revolution, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und ein noch nie dagewesenes urbanes Wohnerlebnis bietet." So definiert sich das Projekt auf seiner Homepage selbst.
"Wir können die Lebens- und Umweltkrisen, mit denen die Städte unserer Welt konfrontiert sind, nicht ignorieren, und Neom ist führend bei der Bereitstellung neuer und kreativer Lösungen", schreibt Mohammed bin Salman, Kronprinz und Vorsitzender des Neom-Verwaltungsrats.
Der offizielle The-Line-Trailer beginnt mit den Worten: "Zu lange hat die Menschheit in funktionslosen und verschmutzten Städten gelebt, welche die Natur ignorieren."
Das Video seht ihr hier:
Die Pläne zu Neom sehen aus wie ein wahr gewordener Science-Fiction-Film. In The Line gibt es keine Straßen und keine Autos, sondern E-Flugtaxis, Lebensmittellieferungen per Drohne und eine ausgeklügelte Infrastruktur, die es ermöglichen soll, jede lebensnotwendige Einrichtung innerhalb von fünf Minuten zu Fuß zu erreichen. Das klingt verrückt, ist aber theoretisch möglich. Schließlich sind in einem 500 Meter hohen Gebäude auch Naherholungsgebiete, Krankenhäuser oder Schulen unterzubringen.
Ein unterirdischer High-Speed-Transitzug soll die beiden Enden verbinden. Unter der Erde wird zudem sämtliche technische Infrastruktur verbaut.
Bin Salman hat für sein Land die "Vision 2030" ausgerufen. Ihr Ziel ist es, die Einnahmequellen zu diversifizieren, weil die Öl-Milliarden nicht für immer sprudeln werden. Deshalb nutzt man nun das Öl-Geld, um das Land neu aufzustellen.
Der Kronprinz will sein Land radikal transformieren. Neom ist für dieses Vorhaben eines der Kernprojekte. Es geht dabei nicht "nur" um den Bau einer scheinbar perfekten Stadt, sondern darum, das Image des Landes aufzupolieren.
"Es gibt einen Grund, warum die Menschheit 50.000 Städte hat, und alle mehr oder weniger rund sind", sagte Rafael Prieto-Curiel vom Complexity Science Hub in Wien der österreichischen Nachrichtenagentur APA. Er ergänzt: "Eine lineare Form ist die am wenigsten effiziente Form."
Die Kernerkenntnis der Wissenschaftler:innen ist, dass man statt The Line besser The Circle hätte bauen sollen. Dann wäre der Radius der kreisförmigen Stadt bei identischer Gesamtfläche nur 3,3 Kilometer lang.
Prieto-Curiel schlussfolgert: "Die Vermutung liegt nahe, dass andere Erwägungen (...) eine Rolle gespielt haben könnten, wie zum Beispiel das Branding oder die Erstellung ansprechender Videos in den sozialen Medien."
Neom vermarktet sich als zentrale Lösung im Kampf gegen die Klimakrise. Das Leben in der Stadt soll zu 100 Prozent klimaneutral sein: Solarstrom, neue Technologien, keine Autos, keine Straßen. Klingt alles ziemlich sexy.
Jedoch: "Neom hat überhaupt nichts mit Nachhaltigkeit zu tun", sagt Amandus Samsøe Sattler, Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen, in der "Süddeutschen Zeitung". Das Versprechen der Klimaneutralität enthält den entscheidenden Punkt nicht: den Bau. Auf mindestens 1,8 Milliarden Tonnen CO₂ schätzt Architekturprofessor Philip Oldfield im SZ-Text die Emissionen für den Bau von The Line. Das ist mehr als das Doppelte, was Deutschland pro Jahr ausstößt.
In dem Gebiet, in dem Neon entsteht, wohn(t)en rund 20.000 Beduin:innen, teilweise seit Jahrhunderten. Für sie ist kein Platz mehr. Schon vor Jahren wurde von Zwangsräumungen berichtet. Stammesmitglieder, die sich weigerten, ihre Heimat zu verlassen, wurden zum Teil verhaftet.
Abdulrahim al-Huwaiti war einer der lautstärksten Kritiker:innen. Er wurde von Spezialkräften erschossen, das Video davon ging 2020 um die Welt. Die saudische Version lautet: Die Einsatzkräfte haben in Notwehr gehandelt.
Überraschend ist das nicht. Die Menschenrechtssituation in Saudi-Arabien ist katastrophal. Für Frauen, für Homosexuelle, für Andersgläubige, für Kritiker:innen. Folter ist zulässig, Todesstrafen werden vollstreckt.
Das steht im krassen Widerspruch zur Gesellschaft, die Saudi-Arabien für Neom zeichnet – weltoffen, hochmodern und fortschrittlich.
Bemerkenswert ist: Die Gesetze Saudi-Arabiens werden in Neom außer Kraft gesetzt. In einer Informationsbroschüre, die watson vorliegt, heißt es: "Die Zone wird unabhängig vom regulatorischen Rahmen der Regierung des Königreichs sein." Heißt beispielsweise: Frauen müssen sich nicht verschleiern, Alkohol ist erlaubt.
The Line wächst langsamer als angekündigt: "Bloomberg" berichtete Mitte April unter Berufung auf anonyme Quellen, dass die Pläne zu ambitioniert sind. 2030 sollen erst 300.000 Menschen hier wohnen können und nicht 1,5 Millionen. In den kommenden Jahren könne man lediglich 2,4 Kilometer finishen. Beteiligte Firmen würden mittlerweile schon Mitarbeitende entlassen.
Diese Meldung ist Wasser auf die Mühlen der Kritiker:innen, die nun unken, das ganze Projekt werde implodieren. Probleme gibt es. Und ja, es könnte zum Reinfall werden. Aber: Saudi-Arabien äußert sich nicht zu den Berichten. Noch wurde das Projekt nicht offiziell verkleinert.
Friedrich von Borries, Architekt und Professor für Designtheorie an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, hat in der "Zeit" die Kritik an Neom zusammengefasst. Er schreibt: "Die westliche Architekturwelt gibt auf die wirklich großen Fragen der Zukunft seit Langem keine positiven Antworten, hat keine innovativen Lösungsvorschläge mehr." Das Gegenteil sei mit The Line der Fall.
In Saudi-Arabien entsteht, das ist nicht zu leugnen, ein Modell für die Stadt der Zukunft. Ob nun in der ursprünglichen Variante oder in einer verkleinerten.
The Line wirkt dennoch wie ein weiterer riesiger Marketingcoup Saudi-Arabiens. Die Vorwürfe des Greenwashings sind nicht von der Hand zu weisen, die Menschenrechtsverletzungen nicht zu ignorieren.
Eine Frage bleibt davon unberührt: Baut Saudi-Arabien eine Stadt, von der die Welt Rückschlüsse für die von der Klimakrise geprägten Zukunft ziehen kann?