Während Russland in dieser Woche, genau zum 36. Jahrestag des Reaktorunfalls von Tschernobyl, Marschflugkörper über das ukrainische AKW Saporischschja schoss, tagte in Wien die erste internationale Konferenz für Atomrecht. Unter anderem ging es dort auch darum, das Recht an neuere Entwicklungen wie sogenannte Small Modular Reactors (SMR), anzupassen. Damit hält die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) selbst jetzt noch am Weiterbau von den Atomkraftanlagen fest, wo Putin sie offen als Erpressungsmittel missbraucht. Das ist absurd.
Denn mit der russischen Besetzung und möglichen Beschädigung von Atomkraftwerken schweben wir in der akuten Gefahr eines Super-GAUs.
Wie kann es sein, dass erst jetzt – im Jahr 2022, nach Three Mile Island, nach Tschernobyl, nach Fukushima – zum ersten Mal ein Thinktank wie der in Wien zusammengerufen wird? Warum wurde dazu nicht schon deutlich früher international zusammen gearbeitet?
Stattdessen haben nicht nur alle Atommächte, sondern auch alle Länder, die Atomkraftwerke besitzen, bei ihren AKWs lieber ihr eigenes Ding gemacht: Weltweit verpflichtende Sicherheitsstandards gibt es bis heute nicht. Jeder braut sein eigenes Süppchen, weil die Mehrheit der Länder konkrete Sicherheitsverpflichtungen ablehnt.
Wie kann das denn sein? Wenn ein Unfall passiert, müssen ja auch die Nachbarländer unter den möglicherweise zu laschen Sicherheitsregeln leiden.
Auch der IAEA als Hauptkontrollinstanz sind die Hände gebunden: Ihre Expertenteams konnten nach einem Verbindungs-Verlust im März durch die Besetzung von russischen Truppen erst diese Woche das stillgelegte AKW in Tschernobyl auf bereits austretende erhöhte Strahlung überprüfen. Was mit dem beschädigten AKW in Saporischschja sei, "steht an erster Stelle meiner Bedenken" sagte Rafael Grossi, Generaldirektor der IAEA, am Donnerstag. Damit sieht die Organisation, die stets von "nuklearer Sicherheit", Gefahrenabwehr und Sicherungsmaßnahmen spricht, Putin beim perfiden Schießbudenspiel mit AKWs zu.
Wenn morgen aus Saporischschja erhöhte Strahlung gemessen würde, könnte Grossi nichts mehr daran ändern – der Schaden wäre schließlich bereits angerichtet. Solange die Messstationen von russischen Truppen besetzt sind, würden wir in Westeuropa das erst dann mitbekommen, wenn es auch hier bereits ausreichend strahlt. Willkommen im Jahr 1986. Tschernobyl die Zweite.
Die internationale Gemeinschaft hätte bei der Konferenz in Wien den Atom-Terrorismus in den Fokus nehmen müssen. Spätestens seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine muss auch der letzte Mensch begriffen haben, dass es beim Thema Kernkraft kein "Weiter so" geben darf. Dass diese Energiequelle zu gefährlich ist. Staaten zu verletzlich macht. Dass das Atomzeitalter endlich vorbei sein muss. Stattdessen hat sich die internationale Gemeinschaft mit dem technischen Ausbau von Atomkraftwerken auseinandergesetzt. Das aber würde unsere Abhängigkeit und auch Erpressbarkeit nur verlängern. Stattdessen braucht es endlich ein gesamtgesellschaftliches Umsteuern bei der Energieerzeugung: endlich weg vom Atomstrom.