Berlin ganz ohne Autos, eine Hauptstadt nur für Fußgänger, Radfahrer, Busse und Bahnen: klingt utopisch bis radikal, aber genau das fordert die Initiative "Berlin autofrei". Ein Volksentscheid und ein daraus folgendes Gesetz sollen dafür sorgen, dass innerhalb des S-Bahn-Rings in einigen Jahren nur noch Busse, Lieferverkehr, Polizei und Feuerwehr fahren dürfen. Die Initiatoren, eine "Gruppe bunt zusammengewürfelter Privatpersonen", wollen die Innenstadt so sicherer, klimafreundlicher, gesünder und fairer machen.
watson hat mit Ludwig Lindner, einem der Initiatoren des Volksentscheids, darüber gesprochen, wie eine autofreie Berliner Innenstadt aussehen könnte – in dem betroffenen Gebiet leben immerhin mehr als eine Million Menschen. Außerdem erklärt er, was sich ändern müsste, damit ein Leben ohne Autos funktioniert, von welchen Städten wir lernen können, welche Strafen Hardcore-Autofahrer erwarten würden und für wen es eine Ausnahme gäbe.
watson: Ein Leben ganz ohne Autos ist für viele noch unvorstellbar. Wie oft saßen Sie in diesem Jahr denn schon in einem Auto?
Ludwig Lindner: Noch nicht so oft. Ich würde sagen, dass ich etwa alle sechs bis acht Wochen in einem Auto sitze, beispielsweise dann, wenn ich meine Familie in Mecklenburg besuche und die mich vom Bahnhof abholt, oder wenn Freunde in Berlin umziehen. Ansonsten brauche ich in meinem Alltag in der Stadt kein Auto.
Warum soll Berlin komplett autofrei werden – welche Vorteile erhoffen Sie sich dadurch?
Wir wollen den Bereich innerhalb des S-Bahn-Rings weitestgehend vom Autoverkehr befreien, um aus Berlin eine sicherere Stadt zu machen. Es sterben immer noch viele Menschen im Straßenverkehr oder werden verletzt, das sollte im 21. Jahrhundert nicht mehr der Fall sein. Außerdem wollen wir, dass das Leben gesünder wird, die Luft würde sich verbessern, wenn weniger Autos unterwegs wären. Wir wollen zudem mehr Platz für alle, momentan sind die Flächen in der Stadt nicht fair verteilt. Obwohl nur wenige Menschen Autos nutzen, nehmen sie viel zu viel Platz ein. Und wir wollen, dass Berlin seinen notwendigen Beitrag zum Klimaschutz leistet.
Bislang sind die Straßen in Berlin voll, trotz relativ gut ausgebautem öffentlichem Nahverkehr. Woran liegt das?
Einer der Hauptgründe ist, dass der Mensch ein Gewohnheitstier ist. Wir haben über Jahrzehnte hinweg gelernt, dass Autofahren Normalität ist. Ein anderer Grund ist, dass der ÖPNV zu teuer ist. Neben unserem Gesetz fordern wir deshalb auch, dass der ÖPNV ausgebaut und günstiger wird. Ein gutes Beispiel ist Wien, dort kostet die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nur einen Euro am Tag.
Das wird natürlich nicht billig – wer soll die Kosten für Ausbau und niedrigere Ticketpreise übernehmen?
Der ÖPNV ist für den Staat viel billiger als der Autoverkehr, denn letzterer produziert extreme externe Kosten – für den Straßenneubau etwa oder die Umweltschäden. Diese Kosten trägt die Gesamtgesellschaft, auch diejenigen, die gar kein Auto haben. Wenn die Kosten umverteilt werden, wenn die Milliarden, die für Dieselsubventionen fließen, in den ÖPNV umgelenkt werden, würde auf der Rechnung am Ende noch ein Plus stehen. Berlin könnte zusätzlich auch eine Nahverkehrsabgabe für Unternehmen einführen.
Was muss sich abgesehen von den niedrigeren Ticketkosten verkehrspolitisch ändern, damit keiner mehr ein Auto braucht?
Vor allem beim Regionalverkehr und der S-Bahn ist eine Taktverdichtung möglich. Zudem sind im Berliner Umland bestimmte Strecken noch immer nicht wiederhergestellt, die durch die Mauer getrennt worden sind. Am günstigsten und schnellsten wäre aber der Ausbau des Straßenbahnnetzes. Da ist der Senat zwar dran, aber das dauert noch zu lange, weil in Genehmigungsverfahren um jeden Quadratmeter Straße gekämpft wird.
Wie würde das autofreie Berlin, das Sie anstreben, genau aussehen?
Uns geht es nicht darum, den Verkehr komplett zu beschränken, sondern auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Ein Auto parkt 23 Stunden am Tag ungenutzt auf der Straße, man würde also mit viel weniger Autos auskommen. Notwendige Fahrten wie Lieferverkehr oder Polizei und Feuerwehr sollen weiterhin stattfinden. Aber die Einzelperson, die ohne Gepäck unterwegs ist, kann sich genauso gut in die U-Bahn setzen.
Manche Menschen sind nicht mobil und deshalb auf ein Auto angewiesen, und ein neu gekaufter Kleiderschrank lässt sich auch schwer in der U-Bahn transportieren. Gäbe es in solchen Fällen Ausnahmen?
Ja, es soll Ausnahmegenehmigungen geben, für den öffentlichen Verkehr, für Menschen, die nicht mobil sind oder wenn es einen sonstigen Grund gibt. Anwohner sollen auch weiterhin Möglichkeiten bekommen, unkompliziert ein- und wieder auszufahren. Wir sind zum Beispiel dabei, zu diskutieren, ob sie eine gewisse Anzahl an Freifahrten im Jahr erhalten.
Trotzdem wird vermutlich nicht jeder begeistert sein von der Idee…
Wir hoffen, dass wir die Berlinerinnen und Berliner innerhalb der vierjährigen Übergangsfrist überzeugen können und die meisten freiwillig auf ihr Auto verzichten. Schon heute besitzen 51 Prozent der Haushalte kein Auto, innerhalb des S-Bahn-Rings sind es noch viele, viele mehr. Und die, die noch ein Auto haben, nutzen es nur sehr selten und brauchen vielleicht nur einen kleinen Anstupser.
Was passiert mit denen, die sich trotzdem nicht an die Regeln halten?
Es gibt natürliche die Hardcore-Autofahrer, die werden wir nicht überzeugen können, aber das ist eine sehr kleine Minderheit. Sollte das Gesetz in Kraft treten und die Übergangsphase vorüber sein, würde der Parkraum vom Ordnungsamt kontrolliert werden, so wie heute auch schon. Dann wären Bußgelder möglich.
Sie sagen explizit, dass E-Mobiliät keine Alternative zu einer autofreien Stadt ist. Warum?
Auch E-Autos nehmen Platz in der Stadt weg, bauen Unfälle, haben eine durchwachsene Klimabilanz, weil der Strom oft noch nicht aus erneuerbaren Energien kommt. Unsere Verkehrswende heißt nicht andere Autos, sondern weniger Autos.
Gibt es Großstädte, in denen ein Leben ohne Autos schon gut funktioniert?
Amsterdam und Kopenhagen sind Paradebeispiele für Fahrradstädte. Berlin hat das gleiche Potenzial, weil es ebenfalls keine bergige Stadt ist. Andere Städte wie London und Oslo versuchen, den Autoverkehr über eine sehr hohe Citymaut zu begrenzen, und in Singapur kostet die Lizenz sogar mehr als das Auto selbst. Wir wollen die Möglichkeit, Auto zu fahren, aber nicht vom Geldbeutel abhängig machen, sondern davon, ob man wirklich darauf angewiesen ist.
Angenommen, Sie haben Erfolg – wann wären die Berliner Straßen autofrei?
Wir gehen davon aus, dass wir alle notwendigen Unterschriften erhalten, dann muss der Senat den Antrag prüfen oder darüber verhandeln. Wir hoffen, dass der Volksentscheid Ende 2022 oder Anfang 2023 durchgeführt werden kann und dass der Verkehr sich dann in der zweiten Hälfte der 2020er-Jahre deutlich beruhigt. Denn schon in der vierjährigen Übergangsphase werden sich die Menschen auf eine autofreie Stadt einstellen – und sich wahrscheinlich gut überlegen, ob sie noch ein neues Auto kaufen.