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Nur 115 Tage Leben: Sogar Bio-Landwirtschaft stellt Vegetarier vor ein Dilemma

Das hier ist Kälbchen Nummer 25 908. Damit eine Kuh Milch gibt, muss sie ein Kalb gebären – am besten alle 360 Tage. Das oft unerwünschte Nebenprodukt: die Kälbchen, allem voran die männlichen.
Das hier ist Kälbchen Nummer 25 908. Damit eine Kuh Milch gibt, muss sie ein Kalb gebären – am besten alle 360 Tage. Das oft unerwünschte Nebenprodukt: die Kälbchen, allem voran die männlichen.josephine andreoli
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Nur 115 Tage Leben: Selbst Bio-Landwirtschaft stellt Vegetarier vor ein Dilemma

Was vegetarisch essende Menschen häufig vergessen: Die Herstellung von Käse, Joghurt, Sahne und Butter ist mit der von Fleisch verbunden. Eine Geschichte über Kälbchen Nummer 25.908 und die Schattenseiten der Milch- und Käseindustrie.
11.04.2022, 13:43
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115 Tage – genau so lange lebt das Kälbchen mit der Nummer 25 908. Geboren ist es auf Joachim Weber-Amanns und Michaela Amanns Bioland-Milchviehbetrieb in Fichtenberg-Mittelrot, Baden-Württemberg. "Dass die Kälbchen geschlachtet werden, gehört leider auch zur Wahrheit der Milchindustrie dazu", sagt Joachim Weber-Amann. "Komischerweise geht mir das jetzt viel näher als früher." Seit Tagen schon denkt er über die baldige Schlachtung von Kälbchen 25.908 nach. "Dass sie jetzt nur noch drei, nur noch zwei, nur noch einen Tag zu leben hat. Das macht mich schon traurig." Einen Namen haben sie dem Kälbchen nicht gegeben, "vielleicht aus Selbstschutz" – um keine zu enge Bindung aufzubauen.

Seit 22 Jahren haben die Amanns ihren Milchviehbetrieb, seit 2002 wirtschaften sie nach Bioland-Richtlinien. 2019 gründeten sie, gemeinsam mit drei weiteren Bio-Betrieben, die "Bruderkalb-Initiative Hohenlohe". Denn was viele häufig vergessen: Damit eine Kuh Milch gibt, muss sie ein Kalb bekommen – am besten alle 360 Tage. Das (unerwünschte) Nebenprodukt: die Kälber, allen voran die männlichen.

Was wird aus den überschüssigen Kälbern der Milchviehhaltung?

Um sowohl die Milch- als auch Fleischgewinnung zu optimieren, wurden Kühe – nach Rasse und Eignung – auf Rekordleistung gezüchtet: Entweder sie setzen bei der Mast gut an und werden zu Steak und Hack verarbeitet. Oder sie werden für die Milchproduktion eingesetzt. Durch jahrzehntelange Zucht konnte die Milchleistung der Tiere binnen der letzten 50 Jahre verdoppelt werden. Bis zu 12.000 Liter Milch kann eine Kuh so im Jahr geben. Dabei gilt: Je mehr Kraftfutter, umso höher die Milchleistung.

Ich würde ja gern alle Tiere behalten. Aber das geht sowohl finanziell, als auch aus Platzgründen nicht."
Joachim Weber-Amannbio-landwirt

In Bio-Betrieben ist der Ertrag oftmals geringer. So geben die Kühe der Amanns durchschnittlich 6.400 Liter Milch im Jahr – weil sie fast ausschließlich Gras und Heu zu futtern bekommen. Das ist sowohl für die Kühe gut, die Wiederkäuer sind, als auch für die Verbraucher, die die Produkte aus eben jener "Heumilch" konsumieren.

Wäre da nicht das Problem mit den Kälbchen: Weibliche Kälber landen häufig als Nachwuchs in der Milchviehherde, männliche sind in der Industrie nur selten zu gebrauchen. Ihr Leben endet zumeist beim Schlachter – nur wenige Monate nach ihrer Geburt. "Ich würde ja gern alle Tiere behalten", sagt Weber-Amann. "Aber das geht sowohl finanziell als auch aus Platzgründen nicht."

Bei Familie Amann wachsen Kälber mit Ersatz-Mutterkuh auf

Dass ihre Tiere ein gutes Leben haben, auch wenn ihnen die baldige Schlachtung droht, will Familie Amann trotzdem. An eben diesem Punkt setzt die "Bruderkalb-Initiative" an. "In vielen Betrieben werden der Mutterkuh die Kälber kurze Zeit nach der Geburt entrissen und mit einem Milchaustauscher aus Eimern mit Nuckeln aufgezogen, was für viel Leid bei beiden Tieren sorgt", erklärt Weber-Amann.

"Bei uns ist das anders." Die Kälber wachsen, zum Teil mit einem weiteren Kälbchen, bei einer "Ammen-Kuh" auf, an deren Euter sie trinken dürfen. Mindestens drei Monate verbringen sie so mit ihrer Ersatz-Mutterkuh. Erst dann werden die Kälber zusammen mit anderen Jungtieren, die der Milchvieh-Nachzucht dienen, untergebracht. Oder aber sie werden verkauft und zum Schlachter transportiert – weil das Kälbchen nicht benötigt wird oder sich zur Milchgewinnung nicht eignet.

"Es macht mehr Sinn, wenn man die Tiere für beides nutzen kann – für Fleisch und für die Milch. Aber weil immer das Maximum rausgeholt werden muss, funktioniert dieses System nicht."
Joachim Weber-Amannmilchbauer

"Das ist der große Nachteil daran, dass die Kühe so stark gezüchtet wurden", so Weber-Amann. "Es macht mehr Sinn, wenn man die Tiere für beides nutzen kann – für das Fleisch und für die Milch. Aber weil immer das Maximum rausgeholt werden muss, funktioniert dieses System nicht", bemängelt er.

Denn: Milchkuhrassen sind allein darauf gezüchtet, eine hohe Milchleistung zu erbringen. Viel Fleisch setzen die Tiere auch bei guter Fütterung nicht an. Damit es sich aber wirtschaftlich für die Milchviehbetreiber lohnen würde, müssten die Kälbchen täglich bis zu 1,2 Kilogramm zunehmen – um binnen kürzester Zeit ein Schlachtgewicht von 220 bis 260 Kilogramm auf die Waage zu bringen.

Die Schlachtung der "Amy-Tochter" stand schon vor ihrer Geburt fest

"Als ich die Amy besamt habe, war von vornherein klar, dass das Kalb geschlachtet werden würde", sagt Milchbauer Weber-Amann. Weil er das Kälbchen nur brauchte, damit seine Kuh Amy weiter Milch gibt. Es ist das Kälbchen mit der Nummer 25.908, das die Amanns fortan die "Amy-Tochter" nennen. Weil klar war, dass die Amanns das Kälbchen nicht als Nachwuchs für ihre Milchviehherde brauchen würden, haben sie für die Besamung das Sperma eines Mastbullen genutzt, "sonst setzt das Kalb später nicht an und lässt sich nicht gut verkaufen". Hätte Weber-Amann das Kälbchen als Nachwuchs für seine Milchviehherde nutzen wollen, hätte er gesextes Sperma genutzt – um sicherzugehen, dass auch ein weibliches Tier dabei herauskommt.

Dafür werden die Spermien in den Besamungsstationen selektiert: nach Spermien mit X-Chromosomen, die ein weibliches Kalb ergeben; und nach Y-Chromosomen, die männliche Tiere hervorbringen. "Man hat ja, wenn man nicht gesextes Sperma zur Besamung nimmt, nur eine 50:50-Chance, dass es eine weibliche Kuh wird", so Weber-Amann.

Der letzte Tag der "Amy-Tochter"

Am 27. November 2021 kommt das Kälbchen der Amy zur Welt, die "Amy-Tochter": Große braune Augen, dichte Wimpern, hellbraunes Fell. Ein Kälbchen wie aus dem Bilderbuch, noch dazu verschmust. Gemeinsam mit einem weiteren Kalb steht die "Amy-Tochter" mit Amme Leonie in einem Laufstall mit Ausgang. Sie hüpft, sie springt, sie spielt. Und lässt sich genüsslich hinter den Ohren kraulen.

Die "Amy-Tochter" genießt ein paar Streicheleinheiten von Milchbauer Joachim Weber-Amann.
Die "Amy-Tochter" genießt ein paar Streicheleinheiten von Milchbauer Joachim Weber-Amann. josephine andreoli

115 Tage später, am 21. März 2022, ist es soweit: Ihr letzter Tag ist angebrochen. Noch hüpft die "Amy-Tochter" fröhlich durch den Stall. "Da fühlt man sich schon immer ein bisschen komisch", sagt Weber-Amann. Er rückt den Schirm seiner Mütze zurecht, kneift die Augen zusammen. "Aber ich versuche das alles so stressfrei wie möglich für sie zu gestalten."

15.21 Uhr: Den Wagen samt Transporter hat Milchbauer Weber-Amann in den Stall vorgefahren. Ausgestattet mit einem Strick geht er in die Box, knüpft der "Amy-Tochter" ein Halfter. Sie steht still, lässt sich hinter den Ohren kraulen.

Die blanke Angst

Als die "Amy-Tochter" realisiert, dass sie fort soll – weg von ihrer Ersatz-Mutter, beginnt sie, sich zu wehren. Sie stemmt ihre Hufe in den Sand, neigt den Kopf zum Boden. Sie will offenkundig nicht mit. Aber Weber-Amann zieht am Strick, stemmt sich gegen das Gewicht des Kälbchens. Die "Amy-Tochter" ist stark – und schwer. Aber die Zeit drängt. Um 15.45 Uhr sollen sie beim Schlachter sein. Die beiden ringen, Schritt um Schritt.

Ein letztes Mal auf die Waage: 241,5 Kilogramm ist die "Amy-Tochter" schwer. Weber-Amann ist zufrieden, in den letzten paar Tagen hat das Kälbchen noch einmal über zehn Kilo angesetzt. Das schlägt sich auf den Preis nieder, den er für das Kälbchen bekommt.

Die "Amy-Tochter" will nicht weg von ihrer Amme Leonie und zerrt mit aller Kraft an dem Strick, an dem Milchbauer Joachim Weber-Amann sie auf die Waage und dann in den Transporter lotsen will.
Die "Amy-Tochter" will nicht weg von ihrer Amme Leonie und zerrt mit aller Kraft an dem Strick, an dem Milchbauer Joachim Weber-Amann sie auf die Waage und dann in den Transporter lotsen will. josephine andreoli

Mensch gegen Tier

Weil der Stallboden rutschig ist und viel Heu verstreut liegt, gewinnt Weber-Amann die Oberhand. Ammen-Kuh Leonie schreit, das junge Kälbchen ebenfalls. In den Augen der "Amy-Tochter" – nackte Angst. Bloß nicht weg von hier. Sie zieht und zerrt am Strick. Bloß nicht in den Hänger.

Es ist ein Zweikampf zwischen Kälbchen und Milchbauer. Weber-Amann scheint zu gewinnen, schafft es endlich, das Kalb in den Hänger zu bugsieren. In dem Moment, wo er die "Amy-Tochter" im Transporter festbinden will, entwischt sie – springt aus dem Hänger, rutscht aus, rennt. "Scheiße, scheiße, nicht auf die Straße", schreit Weber-Amann und rennt hinterher. Jetzt flackert auch in seinen Augen die blanke Panik. Doch das Kälbchen biegt nach links ab, will zurück zu Amme Leonie. Weber-Amann atmet auf. Glück gehabt.

"Ihr Leben war kurz. Aber zumindest war es ein gutes Leben und sie hat bis zuletzt nichts von ihrem Schicksal geahnt."
Joachim Weber-Amannbio-landwirt

Der Zweikampf beginnt von vorn – Kälbchen gegen Milchbauer. Die "Amy-Tochter" reißt ihren Kopf wild umher. Ihre Augen sind verdreht. Sie schnaubt laut. Springt nach rechts, nach links, duckt sich weg. Weber-Amann zieht und drückt und schiebt. Und endlich – geschafft, die kleine Kuh steht im Hänger, ist festgebunden. Rampe zu, ab ins Auto. Es ist 15.43 Uhr. Erschöpft lässt sich Weber-Amann in seinen Sitz sinken, wischt sich mit dem Ärmel die Schweißperlen von der Stirn. "Oh man, das hätte jetzt wirklich nicht sein müssen", sagt er und startet den Wagen.

Mit dem Bolzenschussgerät wird die "Amy-Tochter" bei der Schlachtung betäubt

Keine fünf Minuten später rollt Weber-Amann auf den Hof von einem kleinen Schlachter aus dem Nachbarort, weißes Shirt und Schirmmütze, beige Wachsschürze. Die Türen zum Schlachtraum stehen offen, von einer Stange baumeln die ausgeschlachteten Körper einiger Schweine und Schafe. Weber-Amann fährt mit dem Hänger bis zum Schlachtraum vor. Im Transporter beginnt die "Amy-Tochter" zu tänzeln, der Hänger bebt.

Mit einem Wasserschlauch bespritzt der Schlachter den Boden, beseitigt die letzten Spuren der vorherigen Schlachtung. Langsam rinnt das Blut in den Abfluss. Er greift nach dem Bolzenschussgerät. Damit wird die "Amy-Tochter" betäubt, um ihr Schmerzen bei der Schlachtung zu ersparen.

Die Schattenseiten der Milchindustrie

"Bereit?", fragt der Schlachter. Weber-Amann nickt, öffnet die Rampe und bindet die "Amy-Tochter" los. Mit einem Satz springt sie aus dem Hänger. Im nächsten Moment ertönt ein Knall. Sie sackt in sich zusammen, die Beine zappeln in der Luft. Vorbei. Geschafft. Für das Kälbchen ist das Schlimmste überstanden. Der Schlachter greift nach dem Messer, schneidet die Kehle des Kälbchens durch. Die Beine der "Amy-Tochter" zucken ein letztes Mal in der Luft. Dann ist da nur noch Blut. Eine Lache breitet sich um den Kadaver der "Amy-Tochter" aus.

Ihr Leben war kurz – 115 Tage, rund drei Monate. Lebendgewicht: 241,5 Kilogramm. Schlachtgewicht: 132 Kilo Fleisch. "Ja", sagt Joachim Weber-Amann. Er seufzt. "Ihr Leben war kurz. Aber zumindest war es ein gutes Leben und sie hat bis zuletzt nichts von ihrem Schicksal geahnt."

Noch am nächsten Morgen schreit Amme Leonie. Ihr Muhen hallt durch den Stall. Es klingt, als vermisse sie die "Amy-Tochter".

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