Frankreich: Beamter soll Hunderten Frauen heimlich Mittel verabreicht haben
Ein Vorstellungsgespräch im französischen Kulturministerium war für viele Französinnen ein Traum – es endete jedoch in einem Albtraum. Über Jahre hinweg sollen Frauen bei Bewerbungsgesprächen Opfer von Übergriffen durch einen Beamten des Ministeriums geworden sein.
Der mutmaßliche Täter soll ihnen Getränke angeboten haben, denen er heimlich harntreibende Mittel hinzugefügt hatte. Die Frauen soll er dann zu langen Spaziergängen überredet und in demütigende Situationen gebracht haben. Die Ermittlungen laufen seit Jahren, doch für die Betroffenen ist die Wartezeit auf den Prozess eine zusätzliche Belastung.
Betroffene schildert Ablauf des Bewerbungsgesprächs
Eine von ihnen ist Sylvie Delezenne aus Lille. Ihr Fall liegt rund zehn Jahre zurück; 2025 war sie auf Jobsuche und wurde von einem Personalmanager des französischen Kulturministeriums in Paris auf der Karriereplattform Linkedin kontaktiert. Dort zu arbeiten sei ihr Traum gewesen, erzählt sie dem "Guardian". Doch das Vorstellungsgespräch begleitet sie bis heute.
Der Beamte bot ihr einen Kaffee an, den sie aus Höflichkeit angenommen habe. Sie selbst habe noch den Knopf vom Getränkeautomaten gedrückt, doch der Beamte habe ihren Becher genommen und sich umgedreht, um mit einem Kollegen zu sprechen. Er sei dann über den Flur gegangen, bevor er zurückkam und ihr den Kaffee reichte, so schildert sie.
Dann habe der Beamte vorgeschlagen, aufgrund des schönen Wetters, das Gespräch draußen bei einem Spaziergang fortzuführen. Das gesamte Interview habe mehrere Stunden gebraucht, berichtet Delezenne. Dabei sei es ihr immer schlechter gegangen:
Sie bat um eine Pause, doch der Beamte sei einfach weitergegangen. Schließlich habe sie es nicht mehr ausgehalten und habe sich an den Rand eines Tunnels kauern müssen. "Er kam auf mich zu, zog seine Jacke aus und sagte: 'Ich werde dich schützen.' Ich fand das seltsam", berichtet sie dem "Guardian". Auf dem Heimweg habe sie starken Durst bekommen und mehrere Liter Wasser getrunken. Außerdem seien ihre Füße so sehr angeschwollen, dass sie vom Reiben in den Schuhen anfingen zu bluten.
Der Vorfall hatte für Sylvie Delezenne weitreichende Folgen. Sie gab sich selbst die Schuld, "alles vermasselt" zu haben, beendete ihre Jobsuche und mied Paris. "Ich hatte Albträume und Wutausbrüche. Ich suchte keine Arbeit, ich hielt mich für nutzlos", erzählt sie.
Mann soll Frauen heimlich illegales Mittel verabreicht haben
Erst 2019 erfährt sie durch die Polizei, was eigentlich passiert war – und dass sie nicht die einzige Betroffene ist. Deren Erlebnisse ähneln sich sehr mit dem, was Delezenne widerfahren ist, etwa das von Anaïs de Vos. Auch sie wurde von dem Beamten nach einem Getränk zu einem Spaziergang gebracht. In dessen Verlauf nässte sie sich in einem Café, in dem sie notgedrungen die Toiletten benutzen wollte, ein. Auch de Vos berichtet, sie habe sich später "richtig krank" gefühlt.
Mehr als 240 Frauen haben mutmaßlich von dem Beamten ohne ihr Wissen etwas verabreicht bekommen. Ein Untersuchungsrichter prüft den Verdacht, dass sie über einen Zeitraum von neun Jahren von dem Mann Kaffee oder Tee angeboten bekamen, der mit einem starken und illegalen Diuretikum vermischt war, von dem er wusste, dass es Harndrang auslösen würde.
Die Ermittlungen leitete die Polizei 2018 ein, nachdem eine Kollegin den Mann meldete, weil er versucht haben soll, ihre Beine zu fotografieren. Auf seinem Computer fanden Polizist:innen eine Tabelle mit der Bezeichnung "Experimente", in der er angeblich Zeitpunkte der Verabreichung und Reaktionen der Frauen dokumentiert haben soll. Louise Beriot, die Anwältin mehrerer Frauen, sagt:
Frankreich: Betroffene warten auf Prozess
Aus dem Ministerium und dem öffentlichen Dienst wurde der Mann 2019 entlassen. Während der laufenden Ermittlungen werde er sich nicht äußern, sagt seine Anwältin laut "Guardian". Einen Prozess gab es bis heute noch nicht. Dass sich die Ermittlungen so lange ziehen, sei eine "sekundäre Viktimisierung", sagt Beriot.
Mehrere Frauen erzählen, dass sich ihr Trauma dadurch verschlimmere, dass sich ihr Fall über Jahre hinziehe. "Es dauert viel zu lange. Der Justizprozess verursacht mehr Trauma als Heilung. So sollte Gerechtigkeit nicht funktionieren", sagt eine der Frauen, die ihren Namen nicht nennen möchte, laut "Guardian".
Anaïs de Vos findet, dass das Justizsystem viel zu lange braucht. "Für uns fühlt es sich an, als würden wir ein zweites Mal Opfer", sagt sie.
