Im Juni 2022 durfte sich Brock Purdy die Sonne auf den Bauch scheinen lassen. Als wäre es nicht schön genug, dass er sich gerade einen Profi-Vertrag in der NFL geangelt hatte – wovon er wohl lange geträumt hat – spendierte ihm die Liga zum Auftakt gleich noch einen Urlaub in Newport Beach, Kalifornien. Ein riesiges einwöchiges Spektakel veransteltete die NFL für den neuen dritten Quarterback der San Francisco 49ers.
So ist es Brauch. Seit 1976 vergibt die NFL den Titel "Mr. Irrelevant" (dt: "Herr Unwichtig") an den Nachwuchsspieler, der im Draft als letztes gepickt wird. Versüßt wird den Spielern der unrühmliche Beiname mit einem Trip nach Disneyland und einer Woche Aufmerksamkeit. Die Spieler nehmen es mit Humor, immerhin wurden sie gedraftet, während Hunderte von hoffnungsvollen College-Stars ganz ohne Profi-Vertrag nach hause gehen mussten.
Erfahrungsgemäß macht die Liga der unwichtigen Gentlemen ihrem Namen dann auch alle Ehre, von den meisten hört man danach nie wieder. Mit einer prominenten Ausnahme: Brock Purdy.
Am Sonntagabend kann er als Starting-Quarterback seine San Francisco 49ers mit einem Sieg über die Philadelphia Eagles in den Super Bowl führen.
Hin und wieder schafft es mal ein "unwichtiger" offensiver oder defensiver Lineman, sich nach seinem Rookie-Jahr für eine Vertragsverlängerung zu empfehlen. Andere waren zufällig im Kader, als ihr Team gerade eine fabelhafte Saison spielte. Doch durch individuelle sportliche Leistungen hat bisher noch kein "Mr. Irrelevant" Schlagzeilen geschrieben, schon gar nicht auf den sogenannten Skill-Positions.
Dafür gibt es eine einfache statistische Begründung: Im Draft werden sieben Mal je 32 Spieler gewählt – zuzüglich der Komplementär-Picks für Teams, die durch Trades oder Karriereende viele Spieler verloren haben. Letztes Jahr waren es insgesamt 262 Picks.
Das heißt, 261 Spieler wurden vor Brock Purdy gewählt, und jedes einzelne NFL-Team hat mindestens sechsmal die Chance liegen lassen, ihn zu draften. Offensichtlich hegten die NFL-Scouts nicht allzu viele Hoffnungen bei Purdy.
Das heißt nicht, dass er es nicht schaffen kann. Tom Brady wurde bekanntlich auch erst in der sechsten Runde gepickt, Kurt Warner wurde gar nicht gepickt und war am Ende zweimal Spieler des Jahres und Super-Bowl-Sieger.
Aber von den späten Picks und "undrafted agents" schaffen es jedes Jahr nur ganz wenige sich durchzusetzen. Und dass genau der Spieler, der es schafft, zufällig auch an letzter Stelle gedraftet wurde, ist extrem unwahrscheinlich.
Purdy hatte zudem den Nachteil, dass er Quarterback ist. Die Spielmacher draftet man eigentlich nur in der siebten Runde, um den Kader vollzumachen.
Das war bei Purdy nicht anders: Mit dem langjährigen Starter Jimmy Garoppolo war man in San Francisco nicht mehr ganz zufrieden, da er in wichtigen K.o.-Spielen selten zur Stelle war. Also hatte man im vergangenen Jahr Trey Lance an dritter Stelle gedraftet und ihm vor die Nase gesetzt. Hinter den beiden sollte Purdy eigentlich nur als Notnagel zur Verfügung stehen.
Für Lance endete die Saison jedoch schon am zweiten Spieltag, als er sich im Spiel gegen die Seahawks den Knöchel brach. Der verschmähte Garoppolo musste einspringen, fällt aber seit Dezember ebenfalls mit einer Fußverletzung aus.
Also schickte das Schicksal am 13. Spieltag Brock Purdy auf das Feld. Beim 33:17-Sieg gegen die Dolphins wurde der 23-Jährige so zum ersten "Mr. Irrelevant", der in der NFL je einen Touchdown-Pass erzielt hat.
Doch Purdy hörte nicht auf: Die nach dem Garoppolo-Aus verbleibenden fünf Spiele der Regular Season gewann er alle. Unter anderem zerpflückte er in seinem ersten Spiel gegen Tom Brady die Buccaneers mit 35:7 – schon wieder sowas für die Geschichtsbücher.
Unter Purdy stiegen die 49ers plötzlich zur Nummer 2 in der NFC auf, in den Playoffs hat er dann die Seattle Seahawks und die Dallas Cowboys herausgeworfen.
Dabei spielt Purdy auch noch gut: 18 Touchdowns bei vier Interceptions sind stark. Ein Passer-Rating von 107 ist richtig stark. (Noch sowas für die Geschichtsbücher.)
Noch beeindruckender sind aber seine Ergebnisse: Dass die 49ers, die eigentlich ein defensiv-betontes Team sind, auf einmal regelmäßig 30 Punkte oder mehr erzielen, hätte vor der Saison niemand zu träumen gewagt.
So macht sich San Francisco nun auch im NFC-Finale gegen die auf Platz 1 gesetzten Philadelphia Eagles durchaus berechtigte Hoffnungen auf einen Einzug in den Superbowl.
Ähnliche Geschichten – über einen Reserve-Quarterback, der den Superbowl gewinnt – hat es schon gegeben, wenn auch selten. Man denke nur an Nick Foles, der Philadelphia 2018 zum Superbowl führte. Aber ein "Mr. Irrelevant"? Da würden sich die Historiker mit den Märchenfilm-Regisseuren um die Filmrechte streiten müssen.