Thomas Müller ist Herz und Seele des FC Bayern München. Das gilt nicht nur, weil der gebürtige Oberbayer wie nahezu kein anderer die Mia-san-mia-Mentalität des Rekordmeisters verkörpert, sondern weil Müller auch im Alter von 31 Jahren der wichtige Antreiber seiner Mannschaft ist.
Dabei ist im Jahr 2020 wenig anders als im Jahr 2009, in dem Müller seinen Durchbruch feierte. Er ist auch heute nicht der eleganteste Spieler, hat auf den ersten Blick nicht die spektakulärste Spielweise und weniger Hype hinter sich als so manche Teamkollegen. Müller ist jedoch ein Liebling vieler Trainer, aber im Besonderen von Bayern-Chef Hansi Flick, der ihm nach einer Durststrecke vor rund einem Jahr wieder auf die Beine half und als wichtigen Kernbestandteil der Mannschaft etablierte. In der ersten Hälfte seiner illustren Karriere verdiente sich Müller einst das Etikett "Raumdeuter". Dieser Begriff kam zustande, weil Müller auf unnachahmliche Weise offensive Räume und deren Potenziale zu interpretieren verstand.
Das heißt, er erkannte bereits dann Lücken, wenn diese noch nicht einmal sichtbar waren. Müller verstand die Bewegungsdynamiken von Abwehrreihen und wusste, wann diese sich in welche Himmelsrichtungen verschieben würden und welche Verteidiger zudem Freiräume anbieten könnten. "Müller ist bekannt für seine Läufe zwischen den Linien und in den Rücken der Verteidiger, während er jedoch unsichtbar bleibt", heißt es etwa im Lexikon des Taktikblogs "Spielverlagerung". Ganz allgemein gilt: "Es ist wichtig, ein besseres Verständnis von ballfernen Zonen als der Gegner zu haben."
Der Begriff "Raumdeuter" etablierte sich ähnlich wie "Gegenpressing" auch international, ohne dass etwa die Engländer für den Raumdeuter-Begriff eine adäquate Übersetzung fanden. Es sagt viel über den Status eines Spielers aus, wenn in Lexika eigene Begrifflichkeiten aufgrund seiner Spielweise eingeführt werden. Natürlich gibt es auch andere Raumdeuter-eske Fußballer – beispielsweise Leipzigs Marcel Sabitzer und Tottenhams Dele Alli. Aber Müller war und ist in seiner Art, wie er sich offensiv bewegt, fast einmalig.
Das Besondere im Spiel Müllers brachte deshalb Fans wie Experten zum Staunen, weil er so gar nicht wie ein Modellathlet aussieht. Neben seinem muskelgestählten Sturmkollegen Robert Lewandowski wirkt er wie ein Hänfling, neben seinen pfeilschnellen Außenstürmern Serge Gnabry und Leroy Sané wie ein betagter Altherrenspieler.
Als Müller bei der Weltmeisterschaft 2010 bereits eine tragende Rolle spielte und seine Sperre im Halbfinale gegen Spanien in den Augen einiger mit zum Ausscheiden der DFB-Auswahl beitrug, wunderten sich nicht wenige darüber, was Müller eigentlich auszeichnen würde. TV-Experte Jens Lehmann nannte Müller damals einen "Schleicher", der Gegner nicht mit Schnelligkeit überholen, sondern mit Köpfchen austricksen würde. Über die Jahre wurde es zur Normalität, dass Müller sich mühelos zwischen Defensivreihen bewegte und wie ein Phantom aus dem Nichts an der richtigen Stelle auftauchte, um den nächsten Bayern-Treffer vorzubereiten oder selbst zu erzielen.
Allerdings ging seine Karriere nicht unaufhaltsam bergauf. Noch 2019 wurde davon gesprochen, dass seine Zeit an der Spitze des deutschen und internationalen Fußballs vielleicht vorbei wäre. Aber Müller wäre nicht Müller, wenn er sich nicht aus dieser Krise geschmeidig herausgeschlichen hätte. Allerdings hat er im Zuge dieses zweiten Karrierefrühlings, der zwischenzeitlich standesgemäß mit einem Champions-League-Titel gekrönt wurde, seine Spielweise Schritt für Schritt angepasst.
In der aktuellen Bayern-Mannschaft ist Müller gar nicht mehr so stark als offensiver Raumdeuter gefragt, weil andere bereits dafür sorgen, dass die Defensivreihen unter Druck gesetzt werden. Stattdessen schaltet er sich bewusst stärker im Mittelfeld ein und versucht sogar ganz hinten den bayerischen Spielaufbau anzukurbeln. Diese Entwicklung hat einerseits mit der großen positionellen Freiheit Müllers und seiner Lust an der Spielgestaltung zu tun, hängt andererseits aber auch mit den Herausforderungen zusammen, die Bayern in nahezu jeder Partie lösen muss. Insbesondere hochkarätige Gegner verstehen es mittlerweile sehr gut, durch hohes Pressing dem Spielaufbau der Bayern zuzusetzen.
Dabei positionieren sich zumeist mehrere Gegner um die Mittelfeldakteure Joshua Kimmich und Leon Goretzka, damit diese nicht oder nur in problematischen Situationen an den Ball gelangen. Der FC Sevilla stellte kürzlich im Uefa Supercup teils vier Spieler um die beiden Bayern, Borussia Dortmund nahm im deutschen Supercup insbesondere Kimmich in enge Deckung. Nach dem Abgang von Spielmacher Thiago nach Liverpool lastet ungemein viel Verantwortung auf den Schultern Kimmichs, weil er aus dem Mittelfeldzentrum die wichtigen Aufbaupässe spielen soll. Nebenmänner können ihm dabei nur bedingt helfen.
Aus diesem Grund taucht Müller vermehrt in tiefen Zonen auf und versucht sich fernab seiner eigentlichen Gegenspieler freizuschwimmen und den Ball zu übernehmen. Er positioniert sich dabei in der Regel so, dass er nach Ballannahmen direkt zwei oder mehr Anspielstationen hat und den Angriff mit Anschlusspässen ins Rollen bringt. Wie die untenstehende Grafik verdeutlicht, ist Müller dabei auf keine Spielfeldseite festgelegt, sondern sucht sowohl im linken als auch rechten Halbraum nach Möglichkeiten, um sich unmittelbar ins Spiel einzubringen.
Müller betreibt seine neue Spielweise also nicht zum Selbstzweck. Er möchte sich nicht überall zeigen, um damit der große Kopf dieser Bayern-Mannschaft zu sein. Stattdessen ist es aus seiner Sicht eine Notwendigkeit, dass er nicht weit vorn kurz vor der Abseitsgrenze auf Zuspiele wartet und die anderen mal machen lässt. Denn dann könnte er in einigen Partien ewig warten. Durch seine Präsenz in tieferen Räumen verändert er die Struktur von Bayerns Offensive. Das heißt, Mitspieler bewegen sich beispielsweise weiter nach vorn, wenn Müller hinter ihnen auftaucht, oder sie bieten sich proaktiv als Anspielpartner an, wenn er am Ball ist. Die anderen Münchener reagieren auf das, was Müller tut.
Dieser wiederum beweist, dass er ein zuverlässiger Ballverteiler und Organisator ist. Wie die Grafik der Statistikgurus von "Statsbomb" zeigt, ist Müller sowohl auf den Flügeln als auch in den Halbräumen aktiv. Dieses sogenannte Pass-Sonar veranschaulicht, wohin er im Normalfall die Bälle aus den einzelnen Zonen spielt. Müller hat dabei eine 360-Grad-Übersicht und ist nicht stur darauf bedacht, den Ball nach vorn zu treiben, um so schnell wie möglich in Tornähe zu gelangen. Er hat bei Trainern wie Hansi Flick und Pep Guardiola gelernt, dass manches Mal ein unscheinbarer Quer- oder Rückpass im Endeffekt mehr Raumgewinn einbringt, als ein unbedachtes Zuspiel nach vorn.
Es gibt einige Spielmacher im internationalen Fußball, die sich darauf beschränken, sehr lautlos ihre Mannschaft anzuführen. Sie lassen ihre Pässe sprechen und beeinflussen dadurch Dynamiken, Geschwindigkeiten und Bewegungsrichtungen. Müller hat sich mittlerweile zu einem gewieften Pass- und Impulsgeber entwickelt. Aber er tut das für gewöhnlich nicht lautlos.
Eine der wenigen wunderbaren Randerscheinen der Corona-bedingten Geisterspieleära bestand darin, dass nun jeder genau mithören konnte, was die Spieler auf dem Platz von sich geben. Während manche über 90 Minuten weitestgehend schweigen oder nur schwerlich interpretierbare Laute von sich geben, gab es auch jene der Sorte Müller, die nicht müde wurden, Anweisungen an Mitspieler zu erteilen. Müllers ständige Kommunikation hatte etwas von einem Kompanieführer, der unter höchstem Druck so viele verbale Impulse wie möglich, an die Nebenleute geben wollte, damit es der Gegner ja nicht zu leicht hat und das eigene Team erfolgreich sein kann.
Ob nun jede Anweisung einen wirklichen Effekt hat, ist fraglich. Viele Sportler können bei höchstem Tempo diese Eingaben von außen gar nicht mehr verarbeiten und entwickeln lieber einen Tunnelblick. Sie folgen ihrer Wahrnehmung und tun das, was sie in der jeweiligen Situation für richtig halten. Nichtsdestotrotz stellt Müller auch verbal unter Beweis, dass er mehr als noch zu Beginn seiner Karriere ein gereifter Organisator ist, der nicht mehr über den Platz schleicht, sondern ihn mit Bestimmung zu seinem Territorium erklärt. Die Bayern können sich gewiss glücklich schätzen, dass sie einen solchen Veteranen haben, der mit Kopf, Mund und Füßen anführt und antreibt.